04.03.2025 09:00
epd Das deutsche Wörterbuch von Oxford Languages definiert "Schicksal" als etwas "von einer höheren Macht über jemanden Verhängtes, was sich menschlicher Berechnung und menschlichem Einfluss entzieht und das Leben des einzelnen Menschen entscheidend bestimmt". Die Vorstellung, dass ausgerechnet Politiker Gefangene und Getriebene von etwas ohne "menschlichen Einfluss" Verhängtem sind, leuchtet nicht unbedingt ein. Das hat die ARD aber nicht davon abgehalten, in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal eine Dokumentation über einen Politiker mit dem fragwürdigen Wort "Schicksalsjahre" zu betiteln. Auf "Donald Trump - Schicksalsjahre eines Präsidenten" folgte "Olaf Scholz - Schicksalsjahre eines Kanzlers".
Ein Motiv, das sich durch diesen Mehrteiler zieht, sind die Steherqualitäten von Olaf Scholz. 2004 erlebt er zum ersten Mal eine politische Niederlage: Er erhält bei der Wiederwahl als Generalsekretär der SPD nur 52,6 Prozent Zustimmung und muss sich mit Mitte 40 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder auch noch als "große Nachwuchshoffnung der SPD" verhöhnen lassen. "Das Ende einer Karriere? Nicht bei Olaf Scholz", heißt es in dem von Anna Thalbach gesprochenen Off-Text. Mit "Survivor" von Destiny's Child klingt der erste Teil der Dokumentation daher aus.
Bundesarbeitsminister, "König von Hamburg" (eine Formulierung für seine Zeit als Erster Bürgermeister, die Autor Tim Evers leider ausreizt), Bundesfinanzminister, Kanzler - zwischen diesen Marksteinen steckt Scholz immer wieder Rückschläge weg. 2017 sind es gleich zwei: Zuerst muss er in einer Regierungserklärung als Bürgermeister eingestehen, dass es, anders als von ihm versprochen, beim G20-Gipfel in Hamburg "trotz aller Vorbereitungen nicht durchweg gelungen ist, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten". Kurz darauf muss Scholz Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat den Vortritt lassen - obwohl er sicher gewesen sei, dass er Angela Merkel "auch damals schon geschlagen hätte", wie Lars Haider, Chefredakteur des "Hamburger Abendblatts", sagt. Es gebe "nichts, was er sich nicht zutraut".
Haider ist einer von zwei Scholz-Biografen, die in Evers' Dokumentation zu Wort kommen. Der andere ist Daniel Brössler, der Leiter des Parlamentsbüros der "Süddeutschen Zeitung". Haider ist es auch, der aus einem Gespräch mit Scholz bei dessen Wechsel in die Bundespolitik 2017 berichtet, in dem ihm dieser den Verlauf des Bundestagswahlkampfs 2021 und auch den Wahlausgang präzise vorausgesagt habe. Scholz, sagt Haider, habe sich als der "männliche Merkel" gesehen und vorausgesehen, dass ihm dies zur Kanzlerschaft verhelfen würde.
Polizeigewalt hat es nicht gegeben.
Dass in einem 100 Minuten langen Mehrteiler über eine mehr als vier Jahrzehnte umfassende politische Karriere, der nebenbei in Schlaglichtern auch noch die Geschichte der Bundesrepublik zwischen Nato-Doppelbeschluss und Ampel-Aus erzählen will, viele Aspekte fehlen, liegt in der Natur der Sache. Es ist aber eine Kardinalschwäche des Films, dass er Scholz’ skandalöseste Äußerung ausblendet. "Polizeigewalt hat es nicht gegeben", sagte der 2017 nach dem G20-Gipfel - trotz unzähliger, manchmal sogar live von internationalen Medien oder später über Social Media verbreiteter Bilder, die das Gegenteil belegten.
Der "Tagesspiegel am Sonntag" schrieb seinerzeit über diese "unerhörte Lüge des Olaf Scholz", dass er "in einer Welt ohne Smartphones und Internet" damit "vielleicht durchkäme". Dass ein Politiker die offensichtliche Unwahrheit sagt, mag heute business as usual sein, 2017 stach so eine Äußerung aber noch heraus, erst recht bei einem Politiker, der sonst, wie viele der für diese Produktion befragten Experten betonen, jede Silbe abwägt. Dass diese Äußerung Scholz auf seinem Weg zur Kanzlerschaft nicht geschadet hat, steht auf einem anderen Blatt. Das gilt auch für seine fehlende Erinnerung an im Cum-Ex-Kontext stehende Treffen mit Gesellschaftern einer Hamburger Bank, auf die Evers ausführlich eingeht.
Wahrscheinlich ist es der normale Alters-Rechtsruck.
Den erhellendsten Moment in diesem Dreiteiler liefert ein Ausschnitt aus der MDR-Talkshow "Riverboat" von 2004: Der Moderator Jörg Kachelmann fragt Scholz zu seiner politischen Entwicklung seit seiner unter anderem von einer Liebe zu Marx geprägten Juso-Zeit: "Ist es der normale Alters-Rechtsruck oder hat es irgendeinen Erweckungstag gegeben, an dem das irgendwie von A nach B übergegangen ist?" Kaum ein Journalist würde sich heute noch trauen, einen Politiker nach den Gründen für dessen persönlichen "Rechtsruck" zu fragen. Vor 20 Jahren scheint das aber keine große Sache gewesen zu sein. Scholz antwortet einigermaßen ungerührt: "Wahrscheinlich ist es der normale Alters-Rechtsruck."
Auch das an dieser Stelle des Gesprächs eingeblendete Insert zu Scholz ist interessant: "Früher strammer 'Linker', jetzt 'Mann der Mitte'". Dass die Talkshow-Redaktion die politischen Kategorisierungen in Anführungsstriche setzte, zeigt, dass sie noch ein Bewusstsein dafür hatte, wie schwammig diese Begriffe sind.
"Schicksalsjahre eines Kanzlers" wurde in der Woche nach der Bundestagswahl fertiggestellt. Die Interviews waren da längst geführt. Die Frage, ob Olaf Scholz auch die Niederlage der SPD bei dieser Wahl politisch "überleben" und ein Comeback erleben wird, konnte keiner der Experten mehr beantworten. Sie steht nun im Raum.
infobox: "Olaf Scholz - Schicksalsjahre eines Kanzlers", dreiteilige Dokumentation, Regie und Buch: Tim Evers, Kamera: Thomas Lütz, Produktion: Looks Film (ARD-Mediathek/RBB/NDR/SWR, seit 28.2.25, erster Teil ARD, 4.3.25, 0.05-0.40 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 04.03.2025 10:00 Letzte Änderung: 04.03.2025 14:12
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Scholz, Dokumentation, Evers, Martens, NEU
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