14.03.2025 09:15
epd Die Autorin Kathi Grabowski kämpft gegen zunehmende innere Verbitterung an: In ihrem Ringen um bezahlte Aufträge fühlt sie sich wie eine ewig Strampelnde in einem riesigen See. Ihr Mann hat sie gerade verlassen und dabei die halbe Bude ausgeräumt, die 18-jährige Tochter Lilly fühlt sich mit ihrem Kummer übergangen und geht nach dem Abi nach Australien. Kathi (Jördis Triebel) ist eine gestandene Frau Ende 40, also in einem Alter, in dem Frauen langsam unsichtbar werden, und lebt in Marzahn, wo sie auch aufgewachsen ist.
Menschen, die nicht in der DDR aufgewachsen sind, muss man das erklären: Marzahn ist eine Großsiedlung im Berliner Osten mit rund 60.0000 Wohnungen, die zwischen 1977 und 1989 in serieller Bauweise samt dazugehöriger Infrastruktur hochgezogen wurden, um das Wohnungsproblem zu lösen. Anders als die Sozialbau-Viertel im Westen, die schnell als Sozialghettos galten, war die Bewohnerschaft in den DDR-Neubausiedlungen ausgesprochen heterogen: Professoren wohnten neben Arbeitern, Handwerkern und Staatsbediensteten, die Wohnzufriedenheit war hoch.
Das schützte Marzahn zwar nicht davor, nach der Wende vom Westen ebenfalls als Ghetto stigmatisiert zu werden, erklärt aber, warum Kathi noch immer hier wohnt - wie viele der "Erstbezieher", wie viele ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter oder junge Familien und andere, die sich Wohnungen in der Innenstadt nicht leisten können.
Weil Kathi also Geld verdienen muss, besinnt sie sich auf ihren einst erlernten Beruf als Fußpflegerin und heuert in der "Beauty Oase" an, wo bereits Geschäftsgründerin Jenny Chan (Yvonne Yung Hee Bormann) und Lulu Moll (Deborah Kaufmann) Füße, Hände und Gesichter pflegen. Eine Tätigkeit also, bei der man zwangsläufig Menschen sehr nahekommt, und ein Sinnbild weiblicher Care-Arbeit: Noch mehr als um Hühneraugen oder Hornhaut geht es hier nämlich ums Zuhören und um Empathie. Eine Fußmassage ist unter Umständen auch eine für die Seele und ein glitzernder Nagellack kann wie Balsam wirken.
Damit ist die "Beauty Oase" auch ein Mikrokosmos der Marzahner Gesellschaft, eine Bühne, auf der kammerspielartig in jeder der sechs Episoden die kleinen und großen Dramen des Alltags verhandelt werden. Mal geht es um den uralten Konflikt zwischen der alten, gebrechlichen Frau Nocke und ihrer verbitterten Tochter (Katrin Heller, Monika Lennartz), mal um Kathis ehemaligen Nachbarn, einen alten "Bonzen" (Hermann Beyer) oder um Mario, einen trockenen Alkoholiker mit Hühnerauge (Jörg Malchow), der ständig anderen hilft, nur selten sich selbst.
Da ist die quirlige, schillernde 84-jährige Frau Baumüller (grandios: Eva Weißenborn), die ihre eigene Strategie gegen Einsamkeit entwickelt hat und Kathi beibringt, wie man das Alleinsein auch genießen kann ("Bei offener Tür pinkeln können - dit is Freiheit!") oder das anrührende alte Ehepaar Henke, das kurz vor dem 50. Hochzeitstag steht.
Mit viel Fingerspitzengefühl für die kleinen Gesten und Momente inszeniert Clara Zoe My-Linh von Arnim diese Miniaturen, wunderbar in Szene gesetzt von Falko Lachmund: Die Kamera verweilt auf Gesichtern, wirft immer mal einen Blick nach draußen in die großzügigen Freiräume der Marzahner Promenade und fängt dort ebenfalls Miniaturen ein: junge Skater, Jugendliche, durch deren Rap-Videodreh immer wieder alte Menschen mit Rollatoren laufen, ein Kind, dem in der größten Stadthitze die Eiskugel heruntergefallen ist.
Die Liebe zum Detail prägt auch die Ausstattung - bis hin zur Türleiste mit den Markierungen, die Jennys Heranwachsen dokumentiert. Running Gag ist ein Restaurant-Werbeschild, das ständig neue Beschriftungen erhält - ein Dokument unermüdlichen Ringens der lokalen Ökonomie.
Aber vor allem beeindrucken die Frauen! Jördis Triebel ist eine Wucht: von unglaublicher Präsenz, beeindruckender Körperlichkeit und mit einem sprechenden Gesicht. Sie, Jenny, die mit stoischer Miene verzweifelt um die finanzielle Existenz ihrer "Beauty Oase" kämpft, ohne die Preise hochsetzen oder eine der beiden anderen entlassen zu müssen, und Lulu, deren Loyalität noch größer ist als ihre Liebe zu Nagelverzierungen und ihr Lebenshunger, lassen sich nicht unterkriegen und feiern das Leben. Am Ende stellt Kathi fest: "Meine Liebe ist flüssig geworden und passt in die unwahrscheinlichsten Zwischenräume." Und: "Das Bittere ist verschwunden …"
"Marzahn - Mon Amour" ist - wie die literarische Vorlage - viel mehr als eine Liebeserklärung an Marzahn: Sie ist ein Plädoyer dafür, genau hinzuschauen. Sie erzählt von der Kraft von Frauen, die sich behaupten und ihrem unspektakulären Alltag immer wieder Glücksmomente abtrotzen. Von den Geschichten der Alten, die so viel erlebt haben und jetzt wie Störfaktoren in einer Leistungsgesellschaft behandelt werden. Von Lebensleistungen, Überlebensstrategien, Existenz und Würde, kurz: von Menschen, "die manchmal tagelang mit niemandem reden, die uns, wenn sie ins Studio kommen, ihre hungrigen Herzen ausschütten", an einem Ort, "an dem sie nicht wie die Vollidioten der Nation behandelt werden", wie Kathi am Ende sagt.
Die Serie ist - wie zuvor schon die Miniserien "Warten aufn Bus" oder "Tina mobil" - ein Kleinod im deutschen Fernsehen, weil in ihr der Osten nicht nur als Klischee oder ewige rätselhafte Problemzone daherkommt. Und was macht die ARD mit dieser Perle? Sie versenkt sie am 21. März im Nachtprogramm. Es ist hoffnungslos.
infobox: "Marzahn - Mon Amour", sechsteilige Miniserie, Regie: Clara Zoe My-Linh von Arnim, Buch: Leona Stahlmann, Niklas Hoffmann, Antonia Rothe-Liermann nach dem Buch "Marzahn - Mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin" von Katja Oskamp, Kamera: Falko Lachmund, Produktion: UFA Fiction (ARD-Mediathek/Degeto, ab 14.3.25 und ARD, 21.3.25, 23.50-2.10 Uhr)
Zuerst veröffentlicht 14.03.2025 10:15
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, Degeto, Steglich
zur Startseite von epd medien