Popcorn und Camp-Faktor - epd medien

06.02.2025 11:18

Familie Prill zieht in der Netflix-Serie "Cassandra" aufs Land, um dort einen Neuanfang zu versuchen. Das Haus, in das die Prills einziehen, wird allerdings von einem Roboter bewohnt, der nicht so freundlich ist, wie er am Anfang tut.

Roboter "Cassandra" stellt sich als "gute Fee" vor, die "alles in Schuss hält"

epd Nach einem Schicksalsschlag ziehen die Prills von Hamburg aufs Land, um einen Neuanfang zu versuchen. Die verwunschene 1970er-Jahre-Villa, in der Mutter Samira (Mina Tander), Vater David (Michael Klammer) sowie die beiden Kinder Fynn (Joshua Kantara) und Juno (Mary Tölle) wieder zu sich kommen wollen, hat allerdings eine Besonderheit: Es handelt sich um ein frühes Smarthome, in den Zimmern hängen Monitore an den Wänden, ein Roboter steht als elektronische Haushaltshilfe zur Verfügung.

Zweifelt die Familie anfangs, ob sie das antiquierte System überhaupt reaktivieren soll beziehungsweise ob es nach dem langen Leerstand des Hauses wohl anspringen wird, so kann Teenager Fynn vor der Kontrollwand im Keller nicht widerstehen, ein paar Knöpfe zu drücken und Schalter umzulegen. Und siehe da, bald beginnt ein rotes Licht zu blinken, auf den Bildschirmen erscheint ein weibliches Antlitz (das von Lavinia Wilson), und auch der Roboter meldet sich zum Dienst: "Ich bin Cassandra. Freut mich, euch kennenzulernen. Willkommen in meinem Haus."

Schlagfertige Künstliche Intelligenz

Diese technisch unwahrscheinliche Prämisse muss akzeptieren, wer der sechsteiligen Horrorserie etwas abgewinnen will - genauso wie den Umstand, dass das 50 Jahre alte Computersystem über die Fähigkeiten einer heutigen Künstlichen Intelligenz zu verfügen scheint. Zwar wirkt die Mimik auf den Monitoren ruckelig, sonst aber erweist sie sich als schlagfertige und schnell lernende Dialogpartnerin.

Dass sie indes nicht nur "die gute Fee" ist, die nach Selbstauskunft "alles in Schuss hält", sondern auch anders kann, zeigt sich rasch. Als sie am Swimmingpool einer Maus gewahr wird, sagt sie freundlich "Wer bist du denn?", um schnurstracks über das Tier zu fahren und eine Blutspur zu hinterlassen. Mal schleudert sie beim Rasenmähen einen Stein in die Fensterfront, mal intrigiert sie bei der kleinen Juno gegen deren Mutter: "Sie glaubt, dass von deinem Gejaule die Milch sauer wird!" Als am Ende der Auftaktfolge Samira auf alten Dias die frappierende Ähnlichkeit der früheren Hausherrin mit Cassandra feststellt, setzt der Roboter den Projektor in Flammen.

Psychosoziales Drama

Mit der zweiten Zeitebene verleiht Serienschöpfer Benjamin Gutsche seiner tragischen Heldin Reiz und Tiefe. In geschickt mit der Gegenwartshandlung verwobenen Rückblenden erzählt er die Entstehungsgeschichte der Frankenstein-Villa: Wie der 1973 bei einem Autounfall tödlich verunglückte Medizintechniker und Wissenschaftler Horst Schmitt (Franz Hartwig) seine Ehefrau Cassandra (jetzt leibhaftig: Lavinia Wilson) betrügt, den gemeinsamen Sohn Peter (Elias Grünthal) drangsaliert und schließlich bei seiner skrupellosen Forschung fatal vom Weg abkommt.

Weniger die Science-Fiction als das psychosoziale Drama, in dem sie wurzelt, sorgt fortan für veritablen Horror. Während die Prills sich als eine nach allen Diversitäts-Regeln des globalen Netflix-Entertainments komponierte Familie erweisen - der Kriminalschriftsteller-Vater und die Kinder sind People of Colour, Sohn Fynn ist schwul -, tritt in den Schilderungen der Schmitt-Familie die patriarchalisch geprägte Borniertheit der bundesrepublikanischen 1970er Jahre zutage. Das verleiht dem Geschehen eine nachvollziehbare Verortung.

Retrofuturistischer Look

Gleichzeitig bleibt klar, dass hier Popcorn-Unterhaltung mit Camp-Faktor geboten werden soll. Einerseits eskaliert der Roboter-Terror. So informiert Cassandra die badende Samira darüber, dass Fynn, David und Juno nun ihre Familie seien, die sie sich "nicht noch mal" wegnehmen lassen werde: "Du hast hier nichts mehr verloren!" Andererseits beschwichtigt David seine zunehmend panische Frau, die am liebsten die ganze Technik herausreißen würde, und überredet sie stattdessen zu einer Gesprächstherapie. Er findet inmitten der Bedrohungslage sogar die Muße, sich über eine Neuausrichtung seiner erfolgreichen "Kommissar Romeo"-Romanreihe Gedanken zu machen: Mehr Tiefe will er künftig wagen, so wie bei James Bond in "Skyfall"!

Ohnehin zeigt sich der Mann, der eher am Verstand seiner Frau zweifelt, als die KI infrage zu stellen, als ziemlich rückgratloser Charakter. In der Vergangenheitsebene wiederum wird deutlich, wozu Cassandra fähig ist, als sie keine Sekunde zögert, ihren zum Mehrfach-Mörder gewordenen Sohn mit allen Mitteln zu schützen.

Zu den Stärken der Miniserie gehört die Ausstattung. So begrenzt die Zahl der Schauplätze bleibt, so viel Mühe haben die Macher in die Gestaltung der zentralen Location gesteckt: Der retrofuturistische Look des zugewachsenen Geisterhauses kann sich sehen lassen, der Roboter überzeugt in seiner Mischung aus "E.T."-Charme und klingenblitzender Gefährlichkeit. Und auch die Tonspur steuert immer wieder gelungenen Zeitkolorit bei: Wenn erwartungsgemäß die beiden Mutterfiguren aus unterschiedlichen Dekaden zum Showdown antreten, singt dazu Milva: "Ich hab keine Angst, ich weiß mich zu wehren. Ich lass mir mein Ich nicht so leicht versehren." Ja, "Cassandra" kommt als pures Popcorn daher, aber in der salzigen Geschmacksvariante.

infobox: "Cassandra", sechsteilige Horrorserie, Regie und Buch: Benjamin Gutsche, Kamera: J. Moritz Kaethner, Produktion: Rat Pack Filmproduktion (Netflix, seit 6.2.25)



Zuerst veröffentlicht 06.02.2025 12:18

Peter Luley

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Streaming, Kritik, Kritik.(Streaming), KNetflix, Serie, Horrorserie, Gutsche, Luley

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