Kleinbürgerliche Utopie - epd medien

12.07.2024 09:06

Der WDR widmet der A2 eine eigene Dokumentation, die Geschichten von der Freiheit auf und an der Straße erzählt. Sie erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit und setzt lieber auf überraschende Begegnungen, wie Dieter Dehler festgestellt hat.

Stau auf der A2

epd Die typischen Dritte-Programme-Formate der ARD brechen große Themen aufs Regionale herunter. Hier geht es um die 473 Kilometer der Bundesautobahn 2, die von Oberhausen bis nach Potsdam führt - und eine Hauptverkehrsachse von West- nach Osteuropa ist. Die Autoren Clemens Giersch und Michael Wiesler zeigen entlang dieser Trasse teils originelle, teils nachdenkliche Begegnungen. Für eine akribische Vorbereitung sprechen zahlreiche Griffe in die TV-Archive. Dazu kommt ein jovialer, stets freundlicher, staunend begleitender Kommentar. Dabei steht die Autobahn schon lange nicht mehr für ein unbegrenztes Freiheitsgefühl, sondern eher für Stress und Umweltbelastung.

Umso erstaunlicher die Begegnung mit Frank Kleemann, dem gemütlichen Trucker. Mit seinem Job verbindet er, anders als seine zahllosen osteuropäischen Kollegen, weder Stress noch Druck, sondern Ruhe, Musikhören und Sonnenaufgänge. Auch Brummi-Wettrennen kennt er nicht, seine Spedition hat den Laster auf 85 Stundenkilometer gedrosselt. Ob das Beispiel typisch ist für den Alltag nicht nur auf der A2, sei dahingestellt. Immerhin liefern die Brummis originelle Bildflächen, auf die virtuell Zwischentitel eingeblendet werden. Etwa der Hinweis auf eine der wenigen privaten Autobahnbrücken, die zwei Standorte eines Möbelherstellers verbindet.

Plötzliches Ende der Reise

Die Doku bietet auch eine kleine nordrhein-westfälische Landeskunde. Vorbei am Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop, der als technologisch unbrauchbar galt und nach Anti-AKW-Protesten schon nach 423 Tagen abgeschaltet wurde. Erst jetzt wird das Areal als Speicher für Windkraft wieder interessant. Ein paar Kilometer zuvor erspäht man auf einer Raststätte ein Brückendenkmal, die ausrangierte erste Spannbetonautobahnbrücke, die 1938 eingeweiht wurde.

Eine andere Zeitgeschichte erzählt Christine Wernecke, die Besucher durch das Zonengrenz-Museum in Helmstedt führt. Einst, wie eine NDR-Doku von 1983 zeigt, "Vorposten einer anderen Welt, bewacht von unseren Landsleuten drüben". An diesem Ort endet plötzlich auch die filmische Reise, obwohl es bis zum Berliner Ring noch weitere 140 Kilometer sind.

Doch die Doku hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und setzt lieber auf überraschende Begegnungen. Zufällig erspäht das Filmteam einen Transporter mit der Aufschrift "Alltagsmenschen unterwegs". Dahinter verbergen sich die Betonskulpturen der Bildhauerin Laura Lechner, lebensgroße Durchschnittsmenschen, deren Erkennungsmerkmal ein stets gelassen-gütiges Lächeln ist und die im öffentlichen Raum zum Ausruhen etwa auf dem Schoß einer liebenswürdigen mütterlichen Figur einladen.

Ewiges Grundrauschen

Die vielleicht skurrilste Begegnung gibt es in Vlotho. Erst war dort das Gehöft der Familie Eggesieker - und dann kam direkt angrenzend die A2. Die Familie verließ ihre Heimat deswegen jedoch nicht, sondern gewöhnte sich daran. Schließlich finden sie den Lärm als einschläferndes ewiges Grundrauschen sogar annehmbarer, als eine vorgeschlagene acht Meter hohe Lärmschutzwand. Solche Momente erzählen viel von den modernen Zeiten, vom Wandel - und wie man ihn auf dem weiten Land aushält.

Etwas knapp kommt die erste evangelische Autobahnkirche in Exter vor, wo sich im WDR-Film von 1959 noch ein viel reisender Automobilist über die willkommene Auszeit freut. Aus der Gegenwart gibt es aber leider keine Besucherstimmen, die von der "Tankstelle für die Seele" schwärmen.

Farbenfroher und besonders seltsam ist dagegen der Stopp unter der Autobahnbrücke des Datteln-Hamm-Kanals. Ausgerechnet diesen Ort haben sich die NRW-Hindus als Schauplatz ihres Tempelfestes ausgesucht, bei dem nach prächtigen Prozessionen im Fluss rituelle Waschungen vorgenommen werden - praktischerweise wettergeschützt.

Die Dokumentation ist ein Film über die stillen Geschichten aus der Provinz und das alltägliche und allzu menschliche ihrer Bewohner. Die Stadt kommt nur als flüchtiger Gegenpol vor: In Gelsenkirchen, wo die A2 auf 300 Meter im Tunnel verläuft, wird alle vier Jahre eine spektakuläre Feuerwehrübung simuliert. Der Rest ist kleinbürgerliche Utopie von der Freiheit "on and next to the road".

infobox: "Die A2 - Arbeitstier und Dramaqueen", Dokumentation, Regie und Buch: Clemens Giersch, Michael Wiesler, Kamera: Felicitas Klopp (WDR, 12.7.24, 20.15-21.00 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 12.07.2024 11:06 Letzte Änderung: 12.07.2024 11:27

Dieter Dehler

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KWDR, Giersch, Wiesler, Dehler, NEU

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