07.02.2025 09:26
epd "Ohne Wikipedia wäre ich wahrscheinlich nicht da, wo ich heute bin." Mit diesen persönlichen Einblicken beginnt der Journalist Christoph Schattleitner den Prolog des Podcasts "Sockenpuppenzoo - Angriff auf Wikipedia". Die Leidenschaft, die der Autor und Host für das Thema mitbringt, ist sofort spürbar. Für viele Menschen ist die Recherche bei Wikipedia selbstverständlich geworden: "Wenn wir etwas googeln, meint das eigentlich, ich lese es bei Wikipedia nach", sagt Schattleitner.
Das Prinzip des Internetlexikons Wikipedia ist das der "radikalen Offenheit". Jeder und jede kann bei Wikipedia Artikel verfassen und bearbeiten. Die Änderungen sind jederzeit einsehbar und die Community kann darüber diskutieren. Diese Schwarmintelligenz ist einerseits die Stärke von Wikipedia, andererseits macht sie das Angebot auch anfällig für Manipulationen.
Im Mittelpunkt des Podcasts steht ein bislang wenig beachteter Fall von Manipulation. In den Jahren 2005 bis 2010 versuchten Rechtsextreme, Inhalte von Wikipedia zur Geschichte des Nationalsozialismus massiv zu verändern. Dafür nutzten sie sogenannte Sockenpuppen-Accounts. Da man sich bei Wikipedia nicht mit Klarnamen anmelden muss, ist es möglich, dass ein einzelner Nutzer mit mehreren Accounts gleichzeitig aktiv ist. Dadurch können Inhalte verändert werden, ohne dass ein einzelner Account allzu auffällig ist und man kann in Diskussionen eine vermeintliche Mehrheit vorgaukeln. Wie in einem Theaterstück mit Sockenpuppen.
Einem Nutzer fielen damals zwei verdächtige Accounts auf. Er meldete sie den Administratoren von Wikipedia, die von der Community bestimmt werden. Diese prüften den Fall und sperrten die Accounts. In der Folge wurden immer mehr Accounts enttarnt, die mutmaßlich von einem einzigen oder einigen wenigen Nutzern betrieben wurden. Mehr als 700 Sockenpuppen wurden auch nach 2010 noch enttarnt, mehr als 200.000 Änderungen vorgenommen. Ob der Sockenpuppenzoo tatsächlich endgültig gestoppt wurde, ist bis heute nicht klar.
Christoph Schattleitner und sein Kollege Daniel Laufer versuchen für den Podcast, die damaligen Geschehnisse zu rekonstruieren und herauszufinden, wer hinter dem Sockenpuppenzoo steckte. Hierfür sprechen sie mit Wikipedianern, die an der Enttarnung beteiligt waren, und sie versuchen mithilfe von Computerprogrammen die Tätigkeiten der gesperrten Accounts nachzuvollziehen und so Hinweise auf die Menschen hinter dem Sockenpuppenzoo zu bekommen. Wie sie dem Sockenpuppenzoo nach und nach auf die Schliche kommen, ist eine packende Detektivgeschichte, die zugleich Einblicke in die Funktionsweise von Wikipedia und in die Netzwerke rechter Gruppierungen gibt.
Ihre Recherchen führen sie über Internetforen, rechte Gruppierungen in der Bundeswehr und Burschenschaften in Marburg bis zu einem möglichen Drahtzieher, der mittlerweile für die AfD tätig ist. Schattleitner führt als Erzähler durch den Podcast, immer wieder gibt es O-Töne von Interviewten und nachgestellte oder aufgenommene Gespräche und Situationen, die den Rechercheprozess verdeutlichen.
Abschließend aufklären können Schattleitner und Laufer die Geschehnisse nicht, der mögliche Drahtzieher, den sie gefunden haben, bestreitet eine Beteiligung. Die viel bedeutendere Leistung, die der Podcast vollbringt, ist aber, das System der Neuen Rechten verständlich zu machen. So versuchte der Sockenpuppenzoo beispielsweise in Artikeln zum Nationalsozialismus den Holocaust zu relativieren. Bedenkt man, wie selbstverständlich Menschen und auch auf Künstlicher Intelligenz basierende Systeme wie Chat-GPT auf das Wissen von Wikipedia zugreifen, wird schnell deutlich, welche Gefahr dies darstellt. Der Versuch, gesellschaftliche Diskurse und den gemeinsamen Nenner des Wissens zu verschieben, ist eine Strategie der Neuen Rechten.
Die Verwandlung von Twitter zu X im Zuge der Übernahme durch Elon Musk zeigt, wie schnell sich die Utopie des Internets als Ort der freien Meinungsäußerung und des für alle verfügbaren Wissens zu einer Dystopie wandeln kann und eine Plattform auf einmal für Hass, Desinformation und antidemokratische Strömungen steht. Schattleitner erklärt, dass Plattformen wie Wikipedia funktionieren wie die Demokratie allgemein. Man kann die Stimmen der Rechten nicht grundsätzlich ausschließen, damit verstößt man gegen die Grundsätze der freien Meinungsäußerung und der Offenheit für alle, die bei Wikipedia gilt. Doch man kann Versuche der Vereinnahmung in die Schranken weisen. Dafür braucht es jedoch aktive Teilhabe.
Genau das wird bei Wikipedia aber zunehmend schwierig. Die deutschsprachige Community ist nach Angaben der Wikimedia Foundation von ehemals 10.000 aktiven Autorinnen und Autoren auf 6.000 geschrumpft. Neue Mitglieder haben es schwer, Fuß zu fassen. Einige jüngere Autorinnen und Autoren berichten, die Skepsis gegenüber neuen, manchmal unerfahrenen Mitgliedern sei groß. Ein langjähriger Wikipedia-Admin äußert die Prognose, dass Wikipedia irgendwann nicht mehr ausreichend aktualisiert und langsam zur Ruine wird.
Dieses Szenario löst bei Schattleitner und Laufer große Bestürzung aus. Schattleitner sendet aber auch eine positive Botschaft: Jede und jeder Einzelne kann dazu beitragen, dass es nicht so kommt. Indem der Podcast die Funktionsweisen und die Bedeutung von Wikipedia verdeutlicht, leistet er auch einen wichtigen Beitrag dazu.
infobox: "Sockenpuppenzoo - Angriff auf Wikipedia", siebenteiliger Podcast mit Christoph Schattleitner, Recherche: Daniel Laufer, Christoph Schattleitner, Buch: Miku Sophie Kühmel, Daniel Laufer, Christoph Schattleitner, Produktion: TRZ Media (ARD-Audiothek/SWR Kultur, seit 16.1.25)
Zuerst veröffentlicht 07.02.2025 10:26
Schlagworte: Medien, Audio, Kritik, Kritik.(Audio), KSWR, Podcast, Schattleitner, Laufer, Suhr
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