Chronologie eines Totalschadens - epd medien

13.02.2025 09:05

Mit der ARD-Dokumentation "Die Vertrauensfrage" setzt Autor Stephan Lamby seine kontinuierliche Betrachtung des Politikbetriebs vor. Thomas Gehringer lobt die spannend montierte Chronologie.

Friedrich Merz (l.) im Fahrstuhl des Deutschen Bundestages

epd Olaf Scholz beim Trockenrudern zu interviewen, ist keine ganz neue Idee. Im Dezember 2015 war Scholz, damals noch Erster Bürgermeister von Hamburg, zu Gast in der Radio-Bremen-Talkshow "3 nach 9". Im Studio waren zwei Rudergeräte aufgebaut, Moderator Giovanni di Lorenzo und Scholz entledigten sich ihrer Sakkos und legten sich gemeinsam in die Riemen.

Knapp zehn Jahre später rudert Olaf Scholz mal wieder vor einer Kamera. Er befindet sich im Wahlkampf, da kann das Bild eines sportlich fitten Bundeskanzlers nicht schaden. Man wüsste gern, wer diese Einstellung vorgeschlagen hat, Autor Stephan Lamby oder Scholz selbst? Der Kanzler gibt diesmal in kurzen Hosen längere Antworten, ohne außer Atem zu geraten. Offenbar rudert er nicht nur, wenn eine Kamera dabei ist. Dennoch wirkt diese Interview-Situation künstlicher und verkrampfter als Lambys Waldspaziergang mit Friedrich Merz. Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat der Union gibt sich in seiner sauerländischen Heimat bemerkenswert zugänglich.

Traditionelle Betrachtung

Lamby setzt also, diesmal mit Co-Autor Christian Bock, seine kontinuierliche Betrachtung des Berliner Politikbetriebs fort. Wie der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Arbeit der Ampelregierung prägte, schilderte er vor 17 Monaten in "Ernstfall - Regieren am Limit". Und auch im Bundestagswahlkampf 2021 am Ende der Ära Angela Merkel begleitete er bereits die Kandidatinnen und Kandidaten von CDU/CSU (Armin Laschet), SPD (Olaf Scholz) und Bündnis 90/Die Grünen (Annalena Baerbock). Sein Film "Wege zur Macht" wurde im September 2021 ebenfalls wenige Tage vor dem Wahltermin ausgestrahlt.

Diesmal nahm nicht nur die Zahl der Protagonisten zu. Es blieb angesichts der vorgezogenen Neuwahl auch noch weniger Zeit. Lamby und Bock arbeiten die Ereignisse seit dem Bruch der Ampel Anfang November 2024 auf. Den hohen aktuellen Druck spürt man am Ende, weil der bedeutendste Einschnitt im Wahlkampf allzu knapp eingearbeitet wird. Die folgenschwere Entscheidung von Merz, die AfD-Fraktion im Bundestag erstmals als Mehrheitsbeschaffer in der Migrationspolitik zu akzeptieren, wird mit nur wenigen "Tagesschau"-Ausschnitten und zwei kurzen Statements von Merz und Scholz abgetan. Der Kontrast zu Merz' früheren Aussagen über die AfD ("niederträchtig, schäbig, aggressiv, menschenverachtend") ist immens, wird aber nicht weiter thematisiert. Nur angerissen wird auch die Bedeutung sozialer Medien, die Autoren beschränken sich auf eine eher traditionelle Betrachtung der politischen Kommunikation.

Momentaufnahmen aus der Nähe

Allerdings bietet auch dieser Lamby-Film sowohl eine spannend montierte Chronologie der jüngsten Ereignisse als auch Momentaufnahmen aus ungewöhnlicher Nähe. Das Vertrauen, das sich der Autor über viele Jahre erworben hat, zahlt sich vor allem in den verschiedenen Gesprächen mit Scholz, Merz und dem Grünen-Kandidaten Robert Habeck aus. Die Interviews bieten nur selten die üblichen Wahlkampf-Sprechblasen, auch weil die Autoren entweder präzise Fragen nach konkreten Abläufen stellen oder mit bewusst offen formulierten Fragen Freiräume für ihre Gesprächspartner schaffen.

So wird der Ampel-Totalschaden im November 2024 als Schlagabtausch über Bande erzählt, mit clever montierten Ausschnitten aus den Interviews mit Scholz, Habeck und FDP-Chef Christian Lindner. Auf eine eigene Bewertung in den von Mark Bremer gesprochenen Off-Kommentaren verzichten die Autoren weitgehend. Die Aussagen stehen für sich, das Publikum kann sich auch anhand der Mimik und der Körpersprache der befragten Politiker eine eigene Meinung bilden. Allerdings legt die Montage manchmal durchaus bestimmte Interpretationen nahe. Eben noch fragt Lamby den ehemaligen Bundesfinanzminister Lindner mit einer ungewohnten Schärfe in der Stimme, ob er schon mal interne Regierungspapiere durchgestochen habe (Lindner verneint). Kurz darauf will Lamby dann von Friedrich Merz wissen: "Gehört zur Politik Schauspielkunst?"

Beobachtungen am Rande

Im Gegensatz zu 2021 berücksichtigen die Autoren diesmal auch die AfD und das neu gegründete BSW. Deren Spitzenkandidatinnen Alice Weidel und Sahra Wagenknecht lassen sich auf die Inszenierung von Nähe gar nicht erst ein. Bemerkenswert sind jedoch einige Beobachtungen am Rande: Wie ein Autogrammjäger der BSW-Chefin ein ganzes Album voller Wagenknecht-Bilder hinhält. Oder wie jemand bei der Tonprobe vor dem AfD-Parteitag in der leeren Halle in Riesa ins Mikrofon ruft: "Frau Alice Weidel ist zur Bundeskanzlerkandidatin gewählt mit 99,2 Prozent - Applaus, Applaus, Applaus, Applaus." Tatsächlich kam es zu einem "einstimmigen" Ergebnis per Akklamation.

Am Ende weiten die Autoren noch einmal den Blick über den deutschen Tellerrand hinaus. Sie konfrontieren Habeck, Lindner, Scholz, Merz, Weidel und Wagenknecht mit der Rede von US-Präsident Donald Trump zu dessen Amtseinführung. Man blickt in ernste Gesichter, die auf einen Bildschirm starren. Nur Weidel zeigt sich "glücklich", weil die USA nun wieder einen "aufgeräumten Präsidenten" hätten. Lamby bittet außerdem um einen Kommentar zur Aussage Trumps, dass es in den USA eine "Invasion" durch Millionen von kriminellen Ausländern gebe - wieder ein geschicktes Spiel über Bande, das diesmal Außen- und Innenpolitik verknüpft.

Mehrdeutiger Titel

Eine bezeichnende Antwort entlockt der Autor damit insbesondere Friedrich Merz. Der CDU-Chef vermutet, eine Mehrheit der Deutschen würde den Begriff "Invasion" nicht kritisch sehen. Er spricht von "Empfindungen in den Städten und Gemeinden unseres Landes", die "wahrscheinlich näher" an den Beschreibungen von Trump lägen als an der "abgewogenen, objektiven, versucht auch mäßigenden Beschreibung des Problems von uns". Der mehrdeutige Titel "Die Vertrauensfrage" erhält somit eine weitere Bedeutung, denn nicht nur das Volk hat, zumindest teilweise, das Vertrauen in die Politik verloren. Der Satz gilt offenbar auch umgekehrt: Die Politik traut dem Volk nicht mehr. Und einer wie Merz lässt sich von der Angst vor dem Erfolg populistischer Erzählungen treiben, worauf jedenfalls seine Kehrtwende im Umgang mit der AfD im Parlament hindeutet.

infobox: "Die Vertrauensfrage - Wer kann Deutschland regieren?", Dokumentation, Regie und Buch: Stephan Lamby, Christian Bock, Kamera: Knut Muhsik, Martin Gross, René Dame, Niels Gebhart u.a., Produktion: Eco Media (ARD/WDR/SWR/RBB/MDR, 10.2.25, 20.15-21.15 Uhr, seit 9.2.25 in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 13.02.2025 10:05

Thomas Gehringer

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Dokumentation, KARD, Lamby, Eco Media, Gehringer

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