Wanderjahre einer Köchin - epd medien

25.09.2024 07:40

Für die Dokumentation "She Chef" haben Gereon Wetzel und Melanie Liebheit die bayerische Spitzenköchin Agnes Karrasch während ihrer Lehr- und Wanderjahre durch einige der besten Küchen Europas begleitet.

Die Köchin Agnes Karrasch ist die Protagonistin von "She Chef"

epd Seit Anthony Bourdain im Jahr 2000 das Buch "Kitchen Confidential" ("Geständnisse eines Küchenchefs. Was Sie über Restaurants nie wissen wollten") veröffentlichte, wird die Spitzengastronomie von vielen mit anderen Augen betrachtet. Die perfekt arrangierten Teller und die luxuriöse Bewirtung lassen nicht ahnen, wie rau und menschenverachtend es in vielen Küchen zuging und zugeht. Bourdain beschreibt Drogenkonsum, tätliche Angriffe, Geschrei, Betrug, Schinderei durch größenwahnsinnige Super-Egos und Erniedrigung. Von Sexismus ganz zu schweigen. Dass Frauen es in Profiküchen besonders schwer haben, Chefs zu werden, scheint vielfach belegt. Einige wenige Frauen haben es geschafft, wie Léa Linster und Douce Steiner, die jedoch aus Gastronomie-Familien stammen.

Gereon Wetzel hat 2011 in seinem Dokumentarfilm "El Bulli - Cooking in Progress" über die letzten Monate des Drei-Sterne-Kochs Ferrán Adriá in seinem Avantgarde-Restaurant "El Bulli" Einsichten über den spanischen Ausnahme-Koch und seine Kunst vermittelt. Nun hat er gemeinsam mit Melanie Liebheit "She Chef" gedreht, ein Porträt der "Kochweltmeisterin Agnes Karrasch.

Koch-Event mit Gastro-Wikinger

Wenn der SWR allerdings im Pressetext schreibt, Karrasch sei angetreten, in der Männerwelt der Sterne-Gastronomie aufzuräumen, ist das nicht ganz richtig. "She Chef" ist keine Aktivistinnen-Reportage. Der Film zeigt zwar Sexismus wie Missbrauch des Küchenpersonals und beleuchtet die überholten patriarchalischen Strukturen kritisch, ist aber nicht auf Krawall gebürstet, sondern hat einen ruhigen Flow. Dass er ursprünglich "Wanderjahre" heißen sollte, war wohl nicht peppig genug.

Neben den Themen Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit, neuartige Gastronomie und geschlechtergerechte Zustände in der Küche wird auch die Vermarktung von Spitzenkochkunst als Unterhaltung ins Bild gesetzt. Wenn Poul Andrias Ziska, Mastermind des abgelegensten Sternerestaurants der Welt, beim Koch-Event auf der Bühne mit Schaffell und toten Fischen in der Hand als Gastro-Wikinger von Fotografen in Szene gesetzt wird, wirkt das ziemlich skurril.

Vor allem auch, weil sich Agnes Karrasch, die Protagonistin von "She Chef" abseits des Rampenlichts amüsiert. Denn im "Koks", dem Zwei-Sterne-Restaurant am wildromantischen Fjord auf den Färöer-Inseln, begreift man sich nicht als Brigade, sondern als Team, in dem es, wie Karrasch ihrem Freund Dennis Melzer erzählt, gleichberechtigt zugeht. Nach einem unbezahlten Praktikum im "Koks" bleibt sie dort und sagt Melzer für sein Restaurant-Projekt in Berlin ab. Die grasbewachsenen, wie mit der Natur verschmolzenen Holzhütten, auf den Färöer-Inseln bilden einen starken Kontrast zu den Kristalllüstern im Gründerzeitgebäude in Berlin. In solchen Bildern zeigt "She Chef" auch die Veränderungen in der Spitzengastronomie.

Langer Atem

Der Film zeigt zu Beginn, wie Agnes Karrasch ihren Messerhändler besucht und die Werkzeuge wählt. Ein Schatz, der entsprechend sorgfältig verpackt wird. Die erste Station ihrer Reise als Praktikantin ist das Restaurant "Vendôme" in Bergisch-Gladbach, das damals noch drei Sterne hatte. Perfekte Küche auf höchstem handwerklichen Niveau, Tischdecken, die in situ gebügelt werden, Gäste mit zahlreichen Extrawünschen. Man merkt die Spannung zwischen Köchen und Service.

Karraschs erste Station dort ist die Patisserie, die lange als angemessener Ort für Köchinnen in der Spitzengastronomie angesehen wurde. Joachim Wissler, der Chef, präsidiert, sachlich, nicht ohne den einen oder anderen Witz auf Kosten der Mitarbeiterinnen (vermutlich auch der Mitarbeiter). Hier wird nicht geschrien, aber gleichberechtigt geht es hier nicht zu. Die nächste Station ist das "Disfrutar" (zwei Sterne) in Barcelona. Hier wird mit den Mitarbeitern fürsorglicher umgegangen, aber die Bedingungen sind hart. Der Film zeigt die Auswirkungen von Corona und Lockdowns auf die Gastronomie. Schließlich folgt der Film Karrasch auf die Färöer-Inseln, in diese absurd unberührt wirkende Umwelt. Die Köchin entschließt sich zu bleiben. Inzwischen ist sie laut ihrem Instagram-Account Souschefin dort.

Zwei Jahre lang, von 2020 bis 2022, haben die Filmemacher Agnes Karrasch begleitet. Der lange Atem, der aufmerksame Blick des Films und die eindrückliche Inszenierung spiegeln die beharrliche Persönlichkeit der Protagonistin eindrucksvoll wider. Am Ende sieht man das Küchenteam beim Betriebsausflug auf einem Schiff. Sie ist angekommen in einer Spitzengastronomie, in der es keine Rolle mehr spielt, ob jemand "He Chef" oder "She Chef" ist.

infobox: "She Chef", Dokumentation, Regie und Buch: Melanie Liebheit, Gereon Wetzel, Kamera: Gereon Wetzel, Produktion: Horse & Fruits Filmproduktion (ARD-Mediathek seit 12.9.24, SWR, 19.9.24 23.35-1.10 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 25.09.2024 09:40

Heike Hupertz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KSWR, Dokumentation, Liebheit, Wetzel, Hupertz, Karrasch

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