Neuartiger Genre-Mix - epd medien

07.08.2024 08:03

Der WDR-Dokumentarfilm "Surf on, Europe!" thematisiert gesellschaftliche Konflikte anhand des Surfsports. Schauplätze sind Frankreich, Spanien und Nordirland.

Amaya wünscht sich, dass ihr Kind in Biarritz das Surfen lernt.

epd Die Anzahl der Dokumentarfilme und Dokumentationen zu internationalen Themen hat im deutschen Fernsehen in den vergangenen zwei Jahren merklich abgenommen. Nicht zuletzt deshalb ist der Dokumentarfilm "Surf on, Europe!" ein Glücksfall. Mehr als vier Jahre haben Constantin Gross und Lukas Steinbrecher an ihrem Film gearbeitet, in dem sie den Surfsport als Ausgangspunkt nehmen, um gesellschaftliche Konflikte an drei Schauplätzen in Frankreich, Spanien und Nordirland aufzufächern.

Die Protagonistinnen und Protagonisten in Gross’ und Steinbrechers Dokumentarfilm sind: Aimée, Margaux, Amaya, drei Surferinnen aus dem französischen Biarritz, die in ihrem Heimatort das "Queen Classic Surf Festival" planen, das erste LGBTQ-Festival im vergleichsweise rückständigen Surfsport überhaupt; der aus Marokko stammende Madjib, der im spanischen Tarifa als Surflehrer arbeitet und darauf wartet, dass seine Familie zu ihm ziehen kann; schließlich der Surfboardbauer Ronan aus Derry, der ebenfalls wartet, und zwar auf eine für seine Verhältnisse kostspielige Werkzeugmaschine, von der er sich einen unternehmerischen Durchbruch erhofft.

Glück gehabt

Ronan, von allen Rosy genannt, sagt, er sei mit dem Leitsatz "Es lebe die IRA!" aufgewachsen, habe aber Glück gehabt, dass er - anders als ein von Bürgerkriegstraumata geplagter Kumpel, der ihn beim Armdrücken in der Kneipe besiegt - nie habe "Grenzen" überschreiten, nie zum "Soldaten" im Nordirland-Konflikt habe werden müssen. Um der "Negativität" in Nordirland zu entkommen, habe er wortwörtlich durchaus Grenzen überschritten - um zum Surfen ins Nachbarland Irland zu fahren. Über diese Grenze fährt er immer noch ständig, mit dem Unterschied, dass er damit seit dem Brexit, der für ihn und seine Stadt wirtschaftlich problematisch ist, die Grenze zur EU überschreitet.

Auf so unaufdringliche wie instruktive Art umkreist der Film die verschiedenen Dimensionen der Begriffe Freiheit, Bewegungsfreiheit und Grenzüberschreitung. "Die Freiheit, zu gehen, wohin man will - dafür sterben Menschen auf dem Weg zwischen Marokko und Europa", sagt der Surflehrer Majid. In "Surf on, Europe" sieht man Menschen, die sich jubelnd und schreiend in die Arme fallen, nachdem sie es mit einem Schlauchboot an den Strand von Tarifa geschafft haben, und man hört von anderen, die ertranken, als sie machtlos waren gegen an jenem Tag für die Surfer traumhaften Wellen.

Auf sicherem Wege nach Europa

Die Frau von Majid und seine Kinder haben zwar die Freiheit, auf sicherem Wege nach Europa zu kommen, aber das Familienoberhaupt ist der Verzweiflung nahe, weil es so lange dauert. Madjib hat ein großes Haus für seine Familie gemietet, die Namen der Kinder stehen schon an der Tür, die Captain-America-Bettwäsche ist bezogen. Es müssen aber noch Behördenvertreter kommen, die prüfen, ob das Haus wirklich kindgerecht ist - um nur eine der bürokratischen Hürden zu nennen, mit denen sich Majid konfrontiert sieht, während Gross und Steinbrecher mit ihm drehen.

Im Filmstrang zu Biarritz geht es zum einen um den Sexismus und die Queerfeindlichkeit in der Surfszene, auf die die Organisatorinnen mit ihrem LGBTQ-Festival reagieren, zum anderen um ein Problem, für das es im Englischen den Begriff "Overtourism" gibt - und das zwischen dem diesjährigen Kinostart und der Fernsehausstrahlung von "Surf on, Europe" auch in Deutschland etwas bekannter geworden ist. Demonstrationen von Bewohnern Mallorcas gegen die Folgen des Massentourismus waren Thema in den deutschen Nachrichten.

Gefühl für Bildgewalt

In Biarritz erschwert der Tourismus das Leben der Einheimischen, weil Eigentümer Mietern kündigen, um Wohnungen über Airbnb an Touristen vermieten zu können. Und zu voll im Wasser ist es an zu vielen Tagen des Jahres auch. Jene, die sich locken lassen von der großen Freiheit, die der Sport verspricht, engen letztlich die Freiheiten anderer ein.

Die beiden Autoren sind selbst Surfer, und den Surfszenen merkt man an, dass sie ein besonderes Gefühl für deren Bildgewalt haben. In den Szenen auf dem Wasser schwingt eine Innenperspektive mit. Alles in allem ist "Surf on, Europe!" ein neuartiger Genre-Mix aus Surf-Film und politischem Dokumentarfilm.

infobox: "Surf on, Europe!", Dokumentarfilm, Regie und Buch: Constantin Gross, Lukas Steinbrecher, Kamera: Noah von Thun, Produktion: Veyvey Films (WDR, 7.8.24, 23.00-00.30 Uhr, und bis 5.8.25 in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 07.08.2024 10:03 Letzte Änderung: 13.08.2024 15:02

René Martens

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), BER, NEU

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