02.11.2024 13:10
epd "Mindset" ist der modische Schlüsselbegriff, der Menschen zu einer neuen Denkweise verhelfen soll: Lass Gefühle und Gedanken hinter dir, denn du bist so viel mehr als die Stimmen in deinem Kopf, die im Zweifelsfall ohnehin die deiner Eltern sind. Etwas in dieser Art wird sich auch Frederike, genannt Freddy, gedacht haben, als ihr mit Ende 20 nach 15 Beziehungsjahren klar wird: Da draußen gibt es ein unerforschtes Land, das ich unbedingt noch entdecken möchte. Deshalb überredet sie ihren Freund Zeno zu einem Experiment: 30 Tage lang ist alles erlaubt. Einzige Bedingung: keine Person zweimal. Damit sie sich nicht in die Quere kommen, zieht Freddy zu einer Freundin (Samia Chancrin).
Der Serientitel "30 Tage Lust" klingt wie ein doppeltes Versprechen: einerseits für Freddy und Zeno, andererseits fürs Publikum. Sex wird in TV-Produktionen seit einiger Zeit geradezu keusch praktiziert. Tatsächlich beginnt hier schon die erste der acht Folgen ungewohnt freizügig, jedoch wird die Nacktheit nicht ausgestellt. Linda Blümchen und Simon Steinhorst, beide bislang noch nicht nennenswert in Erscheinung getreten, agieren ohnehin sehr natürlich, was vermutlich nicht immer einfach war, denn Regisseur Bartosz Grudziecki und sein Drehbuchteam konfrontieren die beiden mit einigen Situationen jenseits des konventionellen Schamgefühls. Eine Intimitätskoordinatorin achtete beim Dreh darauf, dass keine Grenzen überschritten werden.
Obwohl Freddy und Zeno allerlei denkwürdige Begegnungen erleben, ist "30 Tage Lust" keine Sexserie; es geht vor allem um die Frage, wie ihre Erfahrungen die beiden verändern. Gerade Zeno macht eine interessante Entwicklung durch. Der Kunstrestaurator wirkt auf den ersten Blick wie ein schluffiger Typ ohne Ehrgeiz und Antrieb. Er wäre nie auf die Idee gekommen, die Beziehung in Frage zu stellen - irgendwann vielleicht Kinder, aber ansonsten ist doch alles prima. Prompt hat am ersten Tag nicht Freddy, sondern er ein Erweckungserlebnis: Während sie geradezu kläglich daran scheitert, ihren früheren Professor (Sebastian Blomberg) in Stimmung zu bringen, landet Zeno im Bett eines sanften Nachbarschaftspärchens (Boži Kocevski, Claudia Kottal).
Fortan schaut die Kamera ohne jede Bewertung dabei zu, was die beiden so treiben. Erfüllend sind vor allem die zufälligen Begegnungen: Zeno trifft in der Bahn eine einstige Mitschülerin, die schon immer für ihn geschwärmt hat und nun einen Abend lang aus ihrem behüteten Vorortdasein ausbricht. Freddys Sexpartner wird nicht etwa der Hauptdarsteller (Malik Blumenthal) eines Theaterstücks, sondern ein Techniker (Gerwin Dannenberg), der ihr zu einer unvergesslichen Bühnenerfahrung verhilft.
Die verabredeten Dates gehen dagegen prompt schief. Immerhin erfährt Zeno im Verlauf eines Abends mit der keineswegs abgeneigten Kollegin Marie (Seyneb Saleh) eine Menge über sich selbst. Während er auch sonst allerlei ausprobiert, ein bewusstseinserweiterndes Abenteuer mit einer schrägen Waldfee erlebt und zwischenzeitlich seinen Stil komplett ändert, wirkt Freddy immer unsteter und will schließlich sogar ihren Job als Apothekerin aufgeben. Dank der Umtriebigkeit des Paars sind die im Schnitt 30 Minuten langen Folgen ohnehin überraschend abwechslungsreich. Allein die letzte zieht sich etwas, aber selbst das ist schlüssig.
Der SWR nennt "30 Tage Lust" eine "Melancomedy", und das trifft es recht gut. Es gibt diverse Heiterkeiten, die gern aus zutiefst menschlichen Momenten resultieren, wenn Freddy beispielsweise ihren Ex-Prof keck aufs Sofa schubsen will, der bedauernswerte Mann jedoch auf dem Parkett landet. Der drogenselige Rave im Wald ist geprägt von ansteckender Ausgelassenheit, und eine Hochzeit, bei der praktisch alles schiefgeht, wirkt wie eine Satire auf minutiös geplante Heirats-"Events". Treffend beobachtet ist auch der Besuch eines ungemütlichen Szenelokals mit unfreundlicher Bedienung und überteuertem Craft-Bier. Trotzdem schwebt eine oftmals nur unterschwellig spürbare Wehmut über vielen Begebenheiten. Mitunter tritt sie auch offen zutage, und das nicht erst am Schluss: Freddy und Zeno lassen auf ihrem Selbstfindungsweg das eine oder andere gebrochene Herz zurück.
Dafür steht vor allem die Dialogfolge sieben, als er sich ein zweites Mal mit Anne (Nairi Hadodo) trifft. Da sie beim ersten Mal keinen Sex hatten, verstößt er nicht gegen die Regel. In dem Lokal sitzen auch ein Mann und eine Frau (Wolfram Koch, Nina Petri), die über den Beziehungsstatus der beiden spekulieren. Dies ist das einzige Mal, dass die Serie in eine neutrale Perspektive wechselt, ansonsten geht es ausschließlich um die Befindlichkeiten von Freddy und Zeno, die im Unterschied zu dem älteren Paar nie wie Kunstfiguren wirken.
Es wird zwar kein Zufall sein, dass einige Mitglieder des ohnehin divers besetzten Ensembles nicht der zweigeschlechtlichen Norm entsprechen, aber die Drehbücher tragen dies nicht vor sich her. Dazu passt auch der Handlungsort: Die Geschichte spielt nicht in einem Berliner Szenekiez, sondern in Stuttgart.
infobox: "30 Tage Lust", achtteilige Serie, Regie: Bartosz Grudziecki, Pia Hellenthal, Buch: Bartosz Grudziecki (Chefautor), Carolina Zimmermann, Mercedes Lauenstein u.a., Kamera: Sabine Panossian, Janis Mazuch, Produktion: Trimafilm (ARD/SWR, seit 25.10.24 in der ARD-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 02.11.2024 14:10 Letzte Änderung: 04.11.2024 16:30
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, Serie, Grudziecki, Trimafilm, tpg, NEU
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