28.01.2025 11:02
epd Am 24. März 2015 zerschellte Germanwings-Flug 9525 in den französischen Alpen. Schon wenige Tage nach der Katastrophe stand für die Ermittler mehr oder weniger fest, dass der Copilot Andreas Lubitz den Absturz willentlich herbeigeführt und dabei 149 Personen mit in den Tod gerissen hat. Das sonst häufige lange Rätselraten über die Absturzursache blieb aus, auch wenn das Todesermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Düsseldorf erst Anfang 2017 eingestellt wurde. Auch die psychische Erkrankung des Copiloten als wahrscheinliche Motivation für die Tat war in der medialen Berichterstattung zu jener Zeit dauerpräsent. Die ARD verhandelt den Fall nun dennoch als True Crime, und zwar unter ihrem Mediathek-Label "ARD Crime-Time", dessen Reihe "Warum verbrannte Oury Jalloh?" kürzlich für den Grimme-Preis nominiert wurde.
Autorin der vierteiligen Dokumentation "Der Germanwings-Absturz: Chronologie eines Verbrechens" ist Justine Rosenkranz, die für den WDR schon Filme zum ersten und fünften Jahrestag des Absturzes gedreht hat. Auch Bildgestalterin Maren Kuhlmann führte bei diesen Filmen bereits die Kamera. Dass das Team sich mit dem Fall auskennt, ist der Reihe anzumerken: Sehr detail- und streckenweise voraussetzungsreich geht es nicht nur um Einzelheiten des Absturzes, der strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in Deutschland und Frankreich oder der Untersuchungen der Flugunfallexperten beider Länder, sondern vor allem auch darum, wie die Angehörigen das Geschehene bewältigen.
Dazu zählen die Mütter zweier Schülerinnen aus Haltern am See, die bei dem Absturz getötet worden sind, der Vater der Opernsängerin Maria Radner oder die Witwe des Flugkapitäns Patrick Sondenheimer. Die Szenen mit ihnen strahlen Vertrautheit aus und gehören zu den stärksten der Serie.
Waren Rosenkranz' Filme "Germanwings-Absturz: Leben lernen mit dem Schmerz" (2016) und "Germanwings-Absturz: Unser Leben ohne dich" (2020) in erster Linie den Hinterbliebenen und ihrer Trauer gewidmet, kommen in "Der Germanwings-Absturz: Chronologie eines Verbrechens" auch andere Protagonisten ausführlich zu Wort. Darunter sind Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung, der französischen Gendarmerie und der Düsseldorfer Staatsanwalt Christoph Kumpa. Angelegt ist die Serie als Collage von Protagonisten-O-Tönen, die auf Erzähler oder Host verzichtet. Ausschnitte aus Nachrichtensendungen und von Pressekonferenzen unterbrechen die Begegnungen mit den Protagonisten ebenso wie nachgestellte Szenen, in denen Ermittler in der abgegriffenen Ästhetik solcher Formate Glaswände mit neuen Erkenntnissen beschriften oder Lubitz' Medikamentenschachteln auf Etiketten wie "Angstlöser" oder "Antidepressiva" legen.
Trotz so vieler Aspekte und Stimmen bilden die Angehörigen der Opfer einen deutlichen Schwerpunkt der Serie. Das ist lobenswert, ist doch genau das eine gängige Kritik am True-Crime-Genre: dass es den Tätern zu viel Platz böte. Dass Lubitz strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte, mag hier freilich eine Rolle spielen.
Genau hier liegt aber auch eine Schwäche der Reihe: Wenn es um den Täter geht, bleibt nach True-Crime-Logik vor allem, sich mit dessen Vorgeschichte psychischer Erkrankungen zu beschäftigen. Effekthascherisch werden E-Mails von Lubitz oder Auszüge seines "Glückstagebuchs" nicht nur nachgesprochen, sondern auch auf Zimmerwände und Vorhänge projiziert. Wenig erkenntnisreich ist es, wenn die Dokumentation posthume Ferndiagnosen der Psychiater Borwin Bandelow und Nahlah Saimeh einholt.
Zwischen all den O-Tönen verschiedenster Protagonisten - ob fachlich bewandert oder nicht - zu Lubitz' seelischem Zustand wird der Verzicht auf Einordnung zum Makel. Wie oft in der Berichterstattung über Straftaten psychisch kranker Menschen drängt sich bisweilen der Eindruck auf, die Krankheit habe zwangsläufig zur Tat geführt. So erklärt etwa der Pilot Claus Cordes, Präsident des Luftsport-Dachverbands Deutscher Aero Club, pauschal, "wenn der psychisch krank ist, darf er nicht fliegen". Dass der Germanwings-Absturz viele in der Luftfahrtbranche überhaupt erst für das Thema sensibilisiert hat, gerät vor lauter Beschäftigung mit der medial bereits ausgeschlachteten Patientenakte des Copiloten ins Hintertreffen. Mit dem "AntiSkid-Programm", bei dem Piloten Kollegen mit psychischen Belastungen, psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen helfen, hätte es ein spannendes Beispiel gegeben.
Aufschlussreicher ist es, wenn die Doku fragt, ob andere Mitschuld tragen: die Lufthansa und ihre Fliegerärzte, das Luftfahrtbundesamt, die zahlreichen Mediziner, die Lubitz in den Monaten vor der Tat wegen eines vermeintlichen Augenleidens aufsuchte, seine Familie. Strafrechtlich hat die Staatsanwaltschaft Düsseldorf dies mit einem klaren Nein beantwortet, zivilrechtlich ist am Landgericht Braunschweig noch eine Schmerzensgeldklage gegen die Bundesrepublik anhängig. Eine Klage gegen die Lufthansa scheiterte 2021 vor dem Oberlandesgericht Hamm. Die Wut einiger Hinterbliebener, weil niemand Lubitz stoppte, und ihren Wunsch, es möge endlich jemand Verantwortung übernehmen, macht die letzte Episode pietätvoll verständlich. Sie zeigt aber auch, dass nicht alle so denken.
"Der Germanwings-Absturz: Chronologie eines Verbrechens" mutet sich und den Zuschauern viel zu: Eben noch war man bei Trauerbewältigungsstrategien, dann schon geht es um möglicherweise manipulierte Handyspeicherkarten der Absturzopfer. En passant wird eine so gewichtige Frage wie die nach der Sinnhaftigkeit der ärztlichen Schweigepflicht abgehandelt, sodass man sich - Presenter-Müdigkeit hin oder her - nach einem Moment der Einordnung und Erklärung sehnt.
infobox: "ARD Crime-Time. Der Germanwings-Absturz: Chronologie eines Verbrechens", vierteilige Dokuserie, Regie und Buch: Justine Rosenkranz, Kamera: Maren Kuhlmann (ARD/WDR, seit dem 28.1.25 in der ARD-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 28.01.2025 12:02
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Internet, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Dokumentation, KARD, KWDR, Rosenkranz, Speck
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