11.03.2025 09:40
epd Bettenbauen haben sie sich wohl anders vorgestellt an diesem Morgen im Altenzentrum St. Nikolaus in Bernkastel-Kues an der Mosel. Hermann Schreckinger (88) zeigt der angehenden Alltagshelferin Sarah (30), wie es geht. Das bringt Sarah aus der Fassung: Er hat einfach ihre Aufgabe erledigt! Doch Schreckinger, ein Mann der Tat, schmeißt Kissen und Zudecke einfach wieder durcheinander. Sarah legt los. Beide lachen. Ein gemeinsames Erfolgs- und Beziehungserlebnis.
Solche Vorkommnisse gibt es immer wieder in der neuen Vox-Dokureihe "Herbstresidenz - mit Tim Mälzer und André Dietz" mit dem Untertitel: "Alter, jetzt kannst du was erleben". "Herbstresidenz" ist das Nachfolgeprojekt von "Zum Schwarzwälder Hirsch - eine außergewöhnliche Küchencrew". André Dietz, Vater einer erwachsenen Tochter mit Beeinträchtigungen, und Tim Mälzer, Fernsehkoch, hatten dort mit Regisseur und Produzent Sascha Gröhl und vielen weiteren engagierten Helfern einen Restaurationsbetrieb auf Zeit "übernommen", um Menschen mit Behinderung in Küche und Service für den ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Es war ein Social-Factual-Format, das die Projektreflexion selbst mitbrachte und dabei gute Unterhaltung bot.
Jetzt, in "Herbstresidenz" geht die Inklusionsanstrengung noch einen entscheidenden Schritt weiter. Dieses Mal geht es nicht nur darum, Menschen mit Beeinträchtigungen in einem geeigneten Arbeitsfeld Chancen auf ein selbstbestimmteres Leben mit angemessenem Einkommen zu ermöglichen, es geht, ebenso wichtig, um die Lebensqualität der eingeschränkten Bewohner eines Altenheims. Menschen mit hohem Pflegebedarf treffen auf Menschen, die als Alltagshelfer beruflich qualifiziert werden sollen. All diesen Persönlichkeiten mit ihren Kompetenzen und ihrem Potenzial gerecht zu werden, das klingt zunächst nach einem Fernseh-"Experiment" mit sozialromantischem Touch, das Zuschauer mit leichtem Grusel ("Die spinnen doch") vor den Schirm treibt.
Zu den Machern mit einem Haufen Ideen gehört Tim Mälzer, der vor Projektbeginn in das Altenheim einzieht, in ein unpersönliches Einzelzimmer. Das Aufnahmegespräch: Allergien? Brot oder Brötchen? Tim merkt: Essen ist hier Highlight des Tages. Obwohl eine Mitarbeiterin Gymnastik auf dem Stuhl oder Gedächtnistraining anbietet. Nix los hier.
Das wird sich ändern, manchmal im Chaos enden, manchmal zu berührenden Begegnungen führen, zu Stimulationen, die nicht immer willkommen sind. Ziel ist, aus dem Pflegeheim ein Zuhause zu machen und dabei das überlastete Personal, für das es nur Hochachtung gibt, mitzunehmen. André Dietz schildert das Projekt so: "90 Tage, zehn Azubis, eine Mission: Den Senioren wieder echtes Leben schenken. Mehr Freude, mehr Genuss, mehr Gespräch, mehr Gefühl. Schaffen wir es, aus einem Pflegeheim ein echtes Zuhause zu machen? Ich glaube fest daran. Dieses Experiment wird für Deutschlands Pflegeheime alles verändern."
Das Versprechen droht schon in der ersten Folge zu platzen. Marlene Ferres, Siegelinde Lentes oder die umtriebige Ursula Schmitt scheinen keine Lust auf Veränderung zu haben. Kochen mit Mälzer? Spargelschälen? Man ist doch nicht hier, um zu arbeiten, das hat man sein Leben lang getan. Später wird gemeckert über das Essen und über mangelnde Hygiene.
Ursula Schmitt zieht sich zurück, trotz Mälzers Charmeoffensive. Eigensinn und Eigenwilligkeit gehören zur Persönlichkeit. Manche Bewohner sind dement oder schwerhörig oder depressiv. Alle sind gewohnt, dass der Tag mit Warten vergeht. Als den Seniorinnen und Senioren nahegebracht wird, dass bald Menschen mit Behinderungen kommen, um sie zu unterstützen, zeigen sie wenig Dankbarkeit. Mit "solchen" habe man noch nie zu tun gehabt. Seien "die" nicht gewalttätig, mindestens unberechenbar?
Auf Skepsis folgt Euphorie folgt Rückschlag folgt Erfolg an unerwarteter Stelle. Das Format setzt auf die Achterbahnfahrt der Gefühle, vor allem beim Zuschauer, aber auch bei den Protagonisten. "Herbstresidenz" ist gesellschaftlich relevanter als "Schwarzwälder Hirsch". Unzufriedene Gastronomiegäste sind anders als alte Menschen, die auf professionelle Hilfe angewiesen sind. Auf Unterstützung bei der Intimpflege, vor deren Anblick und Gerüchen einige der Azubis sofort weglaufen. Nicht so Kevin, der junge Mann mit Tourettesyndrom, der immer wieder respektvoll fragt, ob er den Waschlappen jetzt einsetzen darf.
Dann die Erfahrung des Todes. Die Reaktion der jungen Azubis spiegelt unser Verhalten als Gesellschaft allgemein: Berührungsängste, Schock. Nach und nach akzeptieren jedoch die meisten die Dinge des Lebens. Eine Azubi steigt aus. Die neun anderen, darunter Jordan (18) und Florian (19) qualifizieren sich mithilfe des Weiterbildungszentrums an der Pflegeschule Daun. Mitarbeitende der Mobilen Inklusiven Assistenz haben ihnen während der drei Projektmonate hilfreich zur Seite gestanden.
Diese Pflegeeinrichtung war auch vorher keineswegs ein "schreckliches" Heim. Trotz Pflegenotstand. Die Pfleger, Norman oder Carmen, sind geduldige Profis, denen keine Zeit für Zuwendung bleibt. Der Leiter, Manfred Kappes, hatte bereits begonnen, ein neues Konzept für die Hausgemeinschaft zu entwickeln.
Zeit, mehr Geborgenheit, Stimulation und Teilhabe für die einen, bessere Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt und ein individuell und gesellschaftlich wichtiger Beruf für die anderen, das klingt genial. Die rosa Inklusions-Brille wird hier ergänzt durch ebenfalls wichtige schwarze Momente. Das nächste Caritas-Heim, St. Johannes in Mayen, hat begonnen, ein ähnliches Konzept umzusetzen.
"Herbstresidenz" ist richtig gutes Fernsehen, weil sich hier gelebte Werte und Würde jenseits von Sonntagsreden praktisch anschauen lassen. Einen Preis gab es dafür schon. Der Sozialverband VdK Rheinland-Pfalz hat das Projekt in der Kategorie "Berufliche Integration schwerbehinderter Menschen in der Pflege" ausgezeichnet.
infobox: "Herbstresidenz", vierteilige Dokumentation mit Tim Mälzer und André Dietz, Regie und Buch: Sascha Gröhl, Produktion: Vitamedia (Vox, seit 5.3.25 jeweils mittwochs, 20.15-22.15 Uhr, RTL+ seit 5.3.25)
Zuerst veröffentlicht 11.03.2025 10:40 Letzte Änderung: 13.03.2025 10:22
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KVox, KRTL, Mälzer, Dietz, Gröhl, Brost, Hupertz, NEU
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