25.06.2024 07:24
Retrospektive der Arbeiten von Volker Koepp in der ARD-Mediathek
epd Es beginnt mit Bildern, die man in einem Film, der "Gehen und Bleiben - Uwe Johnson. Folgen des Krieges" heißt, nicht unbedingt erwartet. In der ersten Einstellung kommt am Ende eines Schwenks über das Meer ein englischer Küstenort ins Bild, der mit seinem Boulevard und den dort stehenden Häusern deutlich touristisch orientiert scheint. In der zweiten Einstellung rollt ein umgebauter Lieferwagen ins Bild, der für "Skateboards" wirbt; der Fahrer schaltet einen Song an, der über einen Lautsprecher auf dem Dach des Wagens ins Weite schallt. Der Song von Smiley Maxedon & Cyril John Payne ist mit Klängen einer Slidegitarre unterlegt und heißt: "Blue As Blue Can Be". Er läuft weiter, als die Kamera in der nächsten Einstellung langsam über den in unterschiedlichsten Blautönen gehaltenen Meereshimmel schwenkt.
Erst dann wird der Mann, der wie ein gealterter Hippie wirkt, gefragt, warum es einen deutschen Schriftsteller an diesen Ort gezogen haben könnte. Er antwortet in Englisch, dass es sich um einen militärgeschichtlich bedeutsamen Ort handele, der auch in der frühen britischen Luftfahrt eine wichtige Rolle gespielt habe, und dass ein Schiffswrack vor der Küste liege. Tatsächlich kann man danach sehen, dass in einiger Entfernung vor der Küste Metallstangen - wohl von dem erwähnten Wrack - aus dem Wasser ragen. Erst jetzt folgt, nach knapp drei Minuten, der Titel des Films.
Der Dokumentarfilmer Volker Koepp stellte diesen Film im letzten Jahr fertig. Er wurde am 19. Juni im Dritten Programm des RBB zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt. Für Koepp und seine dokumentarische Methode ist der beschriebene Beginn typisch. Hier drängt sich nicht gleich ein Thema oder ein Protagonist ins Bild. Stattdessen wird das Thema, um das es in den folgenden zwei Stunden und 50 Minuten geht, allmählich entwickelt. Und doch klingt in diesem etwas zufällig wirkenden Einstieg bereits vieles an, was den Film durchziehen wird.
Der Inselort, an dem die ersten Bilder entstanden, ist Sheerness, eine kleine Stadt in England, die dort liegt, wo die Themse in die Nordsee mündet. Hier lebte der Schriftsteller Uwe Johnson in den letzten zehn Lebensjahren bis zu seinem Tod 1984. Das Wrack, das man am Horizont sieht, ist ein amerikanischer Munitionstransporter, der 1944 auf Grund lief und der wegen einer Explosionsgefahr bis heute nicht gehoben ist. Uwe Johnson war sich der Gefahr durchaus bewusst, die von einem Schiff ausgeht, das die Armeen der Alliierten mit Waffen belieferte, die diese im Kampf gegen Nazi-Deutschland benötigten.
Und noch ein zweites Charakteristikum der Filme von Koepp ist dieser Eingangssequenz abzulesen. In ihnen gibt es nur selten Bilder, die sich einer Improvisation der Kamera verdanken. Die Totalen beispielsweise sind wohlkalkulierte Ansichten des Kameramanns Uwe Mann, die sich bewusst an Traditionen der Landschaftsmalerei anlehnen. In ihnen kann das Auge wandern, also selbst auf Entdeckung gehen. Zugleich verweisen sie stets auf den besonderen Moment der Aufnahme, das kann die Tageszeit mit einem besonderen Licht des Tagesanbruchs sein oder eine bestimmte Jahreszeit, in der die Sonne in einem besonderen Winkel auf die Landschaft fällt.
Der Regisseur Volker Koepp wurde am 22. Juni 80 Jahre alt. Die ARD stellte ihm zu Ehren neben diesem neuen Film über Johnson, der im Juli 90 Jahre alt geworden wäre, insgesamt noch elf weitere von Koepps Dokumentarfilmen in die Mediathek. Darunter ist mit "Herr Zwilling und Frau Zuckermann" (1999) auch sein bekanntester und - was die Besucherzahlen im Kino angeht - auch erfolgreichster. Neben diesem stark von den Gesprächen der beiden im Titel genannten Protagonisten lebende Film dominieren vor allem die Arbeiten, in denen die Kamera - wie geschildert - immer wieder in neuen Totalen die Landschaft erfasst, in der die Menschen, um die es geht, leben.
Der Titel dieser kleinen Online-Retrospektive lautet folgerichtig: "Menschen und Landschaften". Zugleich fehlt im Titel etwas: In Koepps Filmen geht es stets auch um die Geschichte, die diese Landschaften geprägt hat und die diese Menschen oft genug zu ihren Opfern machte. So wie aus der Meeresidylle vor Sheerness auf einmal die Reste des Munitionsdampfers herausragen, tauchen in den Gesprächen immer wieder Fragmente von Gewalterfahrungen auf.
Koepp beginnt seinen Film über Johnson an dessen Sterbeort und er lässt ihn dort auch enden. In der Hauptsache bewegt er sich aber durch Mecklenburg, wo Uwe Johnson geboren wurde und aufwuchs, und wo viele Geschichten spielen, die er in Romanen wie "Mutmaßungen über Jakob" oder "Jahrestage" erzählt. Später bewegt sich der Film auf den Lebensspuren des Schriftstellers durch Berlin, Leipzig, Kiel und weitere Orte, an denen er phasenweise gearbeitet oder für seine Bücher recherchiert hat. Das Private bleibt allerdings außen vor: Es zählt allein das literarische Werk.
So unterbrechen immer wieder Lesungen aus diesen Texten den Fluss der Recherche. Gelesen werden die von Koepp ausgewählten Passagen von Menschen, die aus der Gegend stammen, um die es jeweils in den Texten geht, etwa von der Schriftstellerin Judith Zander oder dem Schauspieler Peter Kurth. Die Lesungen sind eingebettet in Gespräche, in denen die Menschen vor der Kamera über ihre persönlichen Begegnungen mit Uwe Johnson sprechen oder von ihren Leseerlebnissen berichten. Ihre Namen werden nicht explizit - etwa über Zwischentitel oder Bauchbinden - genannt, sondern erst am Ende im Abspann mit einem Hinweis auf den Ort, an dem das jeweilige Gespräch stattfand, aufgeführt.
So ist man sich erst am Ende des Films sicher, dass jener ältere, leicht gebeugt gehende Mann mit zerzausten weißen Haaren, der auf seinem mecklenburgischen Landgut Volker Koepp ein Glas Gurkenwasser anbietet, wirklich der Regisseur Hans-Jürgen Syberberg ist, der in den 70er und 80er Jahren einer der wichtigsten Filmemacher der Bundesrepublik war.
Diese Gespräche vor der Kamera darf man nicht mit klassischen Interviews verwechseln. Sie sind stets in der Gegenwart der Aufnahme situiert, so dass eine Katze, die zufällig vorbeiläuft, ebenso thematisiert wird wie ein plötzlicher Wetterumschwung. Einmal wird ein Gespräch sogar fortgesetzt, nachdem heftiger Regen eingesetzt hat. Nun sitzt der Gesprächspartner unter einem Regenschirm, und man hört den Regen auf den Boden prasseln. Koepps Fragen aus dem Off sind meist kurz. Er traut sich beispielsweise, ein Gespräch mit einem Kompliment oder gar mit der Frage "Wie geht’s?" zu beginnen. Was bei anderen zu einem unverbindlichen Smalltalk führen würde, ist bei Koepp oft der Beginn einer intensiven Erkundung von Lebensgeschichten.
So verbinden sich die Erfahrungen, die in den Texten von Johnson niedergelegt sind, mit denen von Menschen, die in derselben Landschaft aufwuchsen. Manche von ihnen, wie etwa die Fernsehjournalisten Heinz und Hanna Lehmbäcker, waren mit Johnson befreundet; von ihnen stammen die meisten Fotos, die den Schriftsteller in den 50er Jahren zeigen. Andere wiederum haben sich mit ihm wissenschaftlich beschäftigt oder sind begeisterte Leserinnen und Leser.
Da sie unterschiedlichen Alters sind, berührt die zeitgeschichtliche Reise des Films nicht nur Ereignisse, die Johnson erlebt und in seinen Büchern direkt oder indirekt behandelt hat, sondern auch solche wie die Wiedervereinigung, die der "Dichter beider Deutschland", wie ihn ein Kritiker nach dem Erscheinen seines zweiten Romans "Das dritte Buch über Achim" (1961) nannte, nicht erlebte. Johnson mochte diese Charakterisierung seiner selbst allerdings nicht, mit ihr könne man ihn "jagen", wie er einst sagte. Er war 1959 mit der S-Bahn von Ost- nach Westberlin gefahren und hatte - wie er selbst sagte - die "Staatsangehörigkeit nach nur zehnjähriger Benutzung" zurückgegeben. Diese schöne Formulierung zitiert Koepp aus einem Film, in dem Johnson in die Kamera sprechend eine Selbstauskunft gibt.
Sonst geht der Regisseur mit historischen Bildmaterialien sehr sparsam um. In der Hauptsache spielt sein Film in der Gegenwart der Produktionsjahre 2021 bis 2023. Dass die Arbeit am Film so lange dauerte, lag an der Corona-Pandemie, an die der Film indirekt erinnert, etwa wenn Menschen die Gesichtsmaske abziehen, wenn sie einen Zug verlassen.
Wer sich einen umfassenden Einblick in das Werk von Uwe Johnson erhofft, wird von diesem Film vielleicht enttäuscht sein. Denn das, was Koepp vorlesen lässt, entspringt eher einer Topographie von Johnsons Leben als der Bibliographie seiner Schriften. Im Abspann wird unter dem Stichwort "Buch" Barbara Frankenstein genannt, die sicher nicht nur an den Kommentaren mitgeschrieben hat, die Koepp aus dem Off selbst vorliest, sondern die einen entscheidenden Anteil an der Auswahl der zitierten Texte hatte. Seit vielen Jahren produziert sie die Filme von Volker Koepp gemeinsam mit ihm und ist zugleich Ko-Autorin und Dramaturgin. Wer mehr über die Arbeitsweise von Koepp, Barbara Frankenstein und den Kameraleuten wissen will, sei auf das informative Buch "Unter hohen Himmeln. Das Universum Volker Koepp" verwiesen, das Grit Lemke 2019 herausgegeben hat.
Einmal bittet Koepp den Schauspieler Peter Kurth, eine bestimmte Passage vorzulesen und überreicht ihm zu diesem Zweck eine Zeitschrift, die kurz zu sehen ist. Es handelt sich um die Schweizer Zeitschrift "Du", die ihr Heft im Oktober 1992 Johnson gewidmet hatte. Interessant ist, dass das Konzept dieser Ausgabe bereits die Filmidee von Koepp vorweggenommen hat: über viele Seiten dominieren Farbfotos das Heft, die Thomas Flechtmann auf den Spuren des Lebens wie der Texte des Schriftstellers in Mecklenburg aufgenommen hat.
Das legt Koepp gleichsam nebenbei offen, wie er auch kenntlich macht, wie er in das dokumentarische Filmbild eingreift. Zu Beginn seines Filmes will er Jugendliche, die in Anklam an einem Flussufer mit dem Rücken zur Kamera sitzen, befragen und bittet sie, sich zu ihm umzudrehen. Doch die widersetzen sich seinem Ansinnen, einer sagt, dann wäre das Bild aber "gestellt". Und der Mann in Shernees, mit dem der Film begann, entschuldigt sich am Ende mitten in der Einstellung nach einer unwillkürlichen Bewegung, er sei das nicht gewohnt - er meint: gefilmt zu werden. Dass in diesem Dokumentarfilm vieles, wenn nicht alles, für den Film geschieht, wird also mehrfach offengelegt. So befinden sich die meisten Gesprächspartner stets so im Bild, wie es der Regisseur gerne hätte - zentral und in Augenhöhe.
Wer sich dem Film "Gehen und Bleiben - Uwe Johnson. Folgen des Krieges" aussetzt, braucht Geduld. Das wird durch eine Fülle von beeindruckenden Bildern von Menschen wie Landschaften belohnt und mit Hinweisen quer durch die Künste beschenkt - ob es sich um das Ruf eines Kuckucks handelt, den eine Kirchenorgel erzeugt, um die Skulptur "Schwebender Engel" von Ernst Barlach in Güstrow oder um die Entstehungsgeschichte eines Bandes von Bert Brecht, den Johnson für den Suhrkamp-Verlag zum Unwillen der DDR-Führung edierte.
infobox: Volker Koepp, geboren am 22. Juni 1944 in Stettin, begann seine Karriere als Regisseur 1970 in den Studios der Deutschen Film AG (DEFA) in Potsdam. Seine Langzeitbeobachtungen über die brandenburgische Kleinstadt Wittstock und weitere Dokumentarfilme machten ihn zu einem herausragenden Vertreter des europäischen Filmschaffens. Seit 1996 ist er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Er erhielt zahlreiche Preise, unter anderem 1997 den von Arte gestifteten Deutschen Dokumentarfilmpreis beim Festival des Dokumentarfilms in Duisburg.
Und so wie dieser Film einlädt, Johnsons Romane erstmalig oder auf eine neue Art zu lesen, lädt er auch ein, sich die anderen Koepp-Filme anzuschauen, die in der ARD-Mediathek bereitstehen. In vielen von ihnen bereist Koepp osteuropäische Landschaften und erkundet in ihnen die Folgen, die vor allem der Zweite Weltkrieg und das Terrorregime der Nazis hinterlassen haben. Gegenden, von denen man heute beispielsweise im Zusammenhang von Putins Krieg gegen die Ukraine hört, die man aber kaum kennt.
Die Retrospektive der Filme von Volker Koepp beweist den Reichtum des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, denn an allen waren ARD-Anstalten (RBB, MDR, SWR oder WDR) beteiligt. Zugleich ist die radikale Form seiner Filme so etwas wie die praktische Kritik an einem Fernsehen, das den geschichtlichen Zusammenhang in der aktuellen Berichterstattung kaum berücksichtigt, und an dokumentarischen Moden, die denen, die zuschauen, alles aufdringlich aufhalsen, anstatt es von ihnen selbst entdecken zu lassen.
Copyright: Foto: privat Darstellung: Autorenbox Text: Dietrich Leder war bis 2021 Professor für Fernsehkultur an der Kunsthochschule für Medien in Köln und ist Autor von epd medien.
Zuerst veröffentlicht 25.06.2024 09:24
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Dokumentarfilm, Koepp, Johnson, Leder
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