Ein historischer Fehler - epd medien

11.02.2025 09:35

Fünf Jahre nach dem EU-Austritt Großbritanniens blickt die Arte-Dokumentation "Brexit Blues" auf die Auswirkungen dessen, was Experten als historischen Fehler einordnen. Dabei fehlen dem Film jedoch zumindest teilweise die passenden Bilder.

Mit dem Brexit sind längst nicht alle Briten glücklich

epd Am 23. Juni 2016 fand die Volksbefragung zum Verbleib der Briten in der Europäischen Union (Referendum on the UK's membership of the European Union) statt. Die Wahlbeteiligung betrug 72,2 Prozent. Für den Austritt stimmten 51,9 Prozent. Eine hauchdünne Mehrheit. Gegen das Verlassen der EU waren nicht nur die meisten jungen Leute und diejenigen mit akademischen Abschlüssen, sondern auch die Einwohner Londons und anderer Städte, sowie die Mehrheit der Schotten und Nordirländer.

2017 sprach die britische linksliberale und pro-europäische Tageszeitung "The Guardian" von "The great British Brexit Robbery" (deutsch: "Der große Britische Brexit Raub"). Es ging um wirtschaftliche Interessen von Milliardären, um den konservativen Premierminister David Cameron. Noch 2016 folgte Theresa May, danach Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak. Am 31. Januar 2020 trat das Vereinigte Königreich schließlich aus der EU aus. Das Ende einer chaotischen Trennung mit einseitiger Scheidungsabsicht und langen Verhandlungen, an deren Ende alles geregelt war?

Vererbte Probleme

Davon ist nicht auszugehen. Fünf Jahre nach dem Brexit haben sich die Versprechungen der Populisten und Konservativen in Großbritannien nicht erfüllt. Statt Kontrolle mit blühendem eigenbestimmtem Handel, statt neu belebtem Nationalstolz und besseren Lebensbedingungen für einen Großteil der Briten, ist die Lage verzwickter als zuvor. Am 31. Dezember 2020 titelte der "Guardian": "Brexit: A tragic national error" (deutsch: "Brexit: Ein tragischer nationaler Fehler") und führte in aller Deutlichkeit die Verluste auf.

Seit Sommer 2024 ist nun eine neue Regierung für die Weiterentwicklung der künftigen Beziehungen mit der EU zuständig. Die neue Labour-Regierung wurde mit überwältigender Mehrheit gewählt. Geerbt hat der neue Premier Keir Starmer eine enorme Staatsverschuldung, große Probleme mit der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, Folgen der Covid-Pandemie und Versorgungsengpässe - zum Beispiel gab es vor einiger Zeit auch wegen der Vogelgrippe kaum Eier zu kaufen. Hinzu kommen die "Cost-of-Living"- und -"Housing-Crisis", das heißt: Die Lebenshaltungskosten, auch im Bereich des Wohnens, sind zu hoch.

Der Brexit war eindeutig der überflüssigste Akt nationaler Selbstverstümmelung in unserer Geschichte.

Zudem hat sich die geopolitische Lage verändert. Der Krieg in der Ukraine, die Wiederwahl Präsident Trumps und mehr. Starke Bündnisse, etwa jenseits der NATO, sind ein Wunsch der Stunde. Starmer hat, so zeigt es auch die Doku "Brexit Blues", eine Charmeoffensive für Europa gestartet. Drängendes Anliegen: ein Re-Start der Beziehungen mit der EU. Aber: Der Brexit selbst wird kaum rückgängig zu machen sein. Oder, wie der Historiker Timothy Garton Ash es in dieser dokumentarischen Bestandsaufnahme ausdrückt: "Der Brexit war eindeutig der überflüssigste Akt nationaler Selbstverstümmelung in unserer Geschichte".

"Brexit Blues" verzichtet weitgehend darauf, die Ideen der Brexit-Populisten, etwa den Aufstieg Nigel Farages mit seiner Partei "UKIP", nachzuzeichnen. Stattdessen setzt die Dokumentation in der Aktualität ein. Mit britischen Pro-EU-Demonstranten, die vor dem Parlament Stellung beziehen und "Freude, schöner Götterfunken" auf Deutsch singen. Immer wieder taucht die Melodie der "EU-Hymne" leitmotivisch innerhalb der folgenden knappen Stunde Inselrundreise mit Ausflug nach Nordirland auf.

Greifbare Auswirkungen

Vorgestellt werden unter anderem eine Farmer-Aktivistin, die über den ausgebliebenen finanziellen Ausgleich für den Ausfall der EU-Landwirtschaftssubventionen spricht. Ein nordirischer Gartencenter-Besitzer zeichnet die neuen Absurditäten der Warenbeschaffung nach. Zwar gehört Nordirland zum Vereinigten Königreich, es dürfen allerdings manche Pflanzen nicht mehr aus- und eingeführt werden. Britische Rosen, die Zierde jedes Cottagegartens, gibt es gar nicht mehr. Solche Beispiele, die auch in "Weltspiegel"-Beiträgen vorkommen könnten, sind gut montiert und veranschaulichen manche der Probleme. Noch interessanter wäre ein Ausflug zur EU-Außengrenze gewesen, die nun quer durch die Insel Irland führt. Hingewiesen wird immerhin auf die wachsenden Bestrebungen, die auf eine Wiedervereinigung Irlands setzen. Keine Rolle spielen die neu intensivierten Bemühungen Schottlands, Unabhängigkeit zu erlangen (und in die EU zurückzukehren).

Dafür ordnen zahlreiche mehr oder weniger hilfreiche Experten, unter denen Europafreund Timothy Garton Ash sicher die prominenteste Figur ist, die Situation ein. Hier herrscht Einigkeit: Der Brexit war ein großer Fehler, der nicht einfach rückgängig gemacht werden kann. "Brexit Blues" beleuchtet auch die fünf Jahre Entwicklung im EU-Parlament in Brüssel und die aktuellen EU-Standpunkte gegenüber Großbritannien. UK als EU-Aufnahmekandidat? Unwahrscheinlich.

Suche nach Bildern

Man bekommt in dieser knappen Stunde insgesamt eine gute Übersicht über den Ist- und Diskussionsstand. Nachteil ist, dass wegen des immer wieder durch Einordnungen unterbrochenen Schauplatz-Hoppings zwar etliches angerissen wird, aber wenig Anschaulichkeit bekommt. Die Mentalitäten etwa, die für nicht wenige Briten den EU-Austritt und die "Rückerlangung der Kontrolle" über das eigene Schicksal attraktiv erscheinen ließen, bleibt unterbeleuchtet. Zum Ende hin wird kurz gestreift, dass die ganze Brexit-Kalamität auf der Insel weiter wirkt. Nigel Farages neue Partei lässt die Konservativen bei der letzten Wahl hinter sich, mit einem Direktmandat sitzt er nun im Unterhaus.

Stellenweise wirkt der Film arg textlastig und scheint Bilder zu suchen, die irgendwie zum Gesagten passen. Dabei agiert er nicht immer glücklich. Um den Niedergang der Lebensbedingungen zu illustrieren, dient die Trostlosigkeit des Vergnügungsorts Blackpool. Man sieht eine sehr korpulente Frau auf einer Bank. Eine Frau, die schwanger ist und noch ein kleines Kind im Sportwagen vor sich her schiebt. Das wirkt beliebig und diskriminierend zugleich. Am Ende legt eine Fähre ab, im Hintergrund die weißen Kreidefelsen von Dover. Kurs EU. Trotz solcher Klischees kann man "Brexit Blues" als orientierendes Jahrestagsfernsehen durchaus empfehlen.

infobox: "Brexit Blues. Fünf Jahre nach dem EU-Austritt", Dokumentation, Regie und Buch: Sebastian Bellwinkel, Kamera: Dennis Wienecke, Jonny Müller-Goldenstedt, Sebastian Wagner, Produktion: Vincent Productions, Sandra Maischberger (Arte-Mediathek, seit 31.1.25, Arte/NDR, 4.2.25, 22-50-23.45 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 11.02.2025 10:35

Heike Hupertz

Schlagworte: Medien, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KNDR, KArte, Hupertz, Brexit Blus

zur Startseite von epd medien