09.02.2024 14:46
epd Wer in diese Bürowelt eintritt, sollte alle Hoffnung fahren lassen, ähnlich wie einst die Eintretenden in Dantes Inferno. Doch empfängt ihn bei Gesche Piening nicht das Grauen von Extremfällen, sondern Alltagsgrau, das sich bedrohlich ausdehnt und mehr und mehr alles überzieht. "Wir verändern uns alle auf die gleiche Weise", warnt da ein gestandener Kollege die Neue, "selbst Hybris schützt dich nicht." Als erfahrene Kollegen, so ist bald beim Zuhören zu merken, gelten jene, die Durchhalteappelle an andere mit ausgefeilten Techniken zur Selbstbehauptung vereinen. Diese schließen verblüffend den männlichen Zwischenruf "Kann mich bitte jemand küssen?" oder den weiblichen Wunsch, "beschützt zu werden", ein.
Was für eine Firma stellt die Autorin hier vor? Was wird da produziert, vertrieben oder verwaltet? Dazu geben Pienings versprengte Reflexionen und Momentaufnahmen mit leitmotivischen Reprisen keine Hinweise. Solche Konkretion interessiert sie offenbar nicht. Natürlich suggeriert die Informationslücke auch, wie gleichgültig das Ergebnis all dieser versammelten Bemühungen bleibt. Piening geht es ausschließlich um Seelenlagen und Reaktionen der Mitarbeiter. Deren Rolle vertritt unter der Regie der Autorin ein bewegliches Ensemble, zu dem Natalie Spinell, Sebastian Brandes, Christian Löber, Gro Swantje Kohlhof, Vincent Glander, Edmund Telgenkämper, Katrin Filzen und Michael Kranz gehören.
Wie Pienings herausragendes, lebensnahes Requiem "Einsam stirbt öfter" (epd 26/20), das Biografien bis zu ihren Armengräbern an Friedhofsrändern nachspürte, ist auch ihr neues Hörspiel als desillusionierendes Gesellschaftsporträt angelegt. Doch anders als damals hat die Autorin diesmal auf alltagsethnologische Feldforschungen mit Recherchen und Interviews und damit auf ihre Vitalquelle verzichtet. Stattdessen verlegt sie sich auf Verallgemeinerungen und auf bilanzierende Urteile. So verspielt sie Lebensnähe und mögliche überraschende Perspektiven.
Nirgends gibt es hier bei dem Büropersonal eine Spur von Leidenschaft zum Beruf, keine Spur auch von kecker Widerstandslust. Im monochromen Grau fehlt die Dynamik von Aufbruchsimpulsen und Enttäuschungen, von Kontroversen und sachlichen Konfrontationen, von Erfolg und Scheitern. Allenfalls tauchen Imageprobleme Einzelner und Konkurrenzgefühle auf. "Ich empfinde dich als Verrat an mir" oder "ich werde nicht ruhen, bevor du nicht sagst, dass ich besser bin als du", wird da gestichelt. Nicht nur an Schreibtischen, sondern auch in der Kantine bei gemeinsamer "Nahrungsaufnahme", wo alle, fern von erholsamem Klatsch, ihren langweiligen Ekel an Kauvorgängen und Gerüchen pflegen, finden sich Traumatisierte und Überreizte wechselseitig unerträglich.
Weiter trägt zum Glück Pienings konsequente Dramaturgie, auch in diesem Hörspiel Gesellschaftsbild wie Einzelporträts vor einem existenziellen Todeshorizont zu entwickeln. Hier überzeugt ihr Ansatz, dabei nicht ohne abgründige Komik und gelegentliche satirische Tupfer einen Großteil des Bürolebens in Nachrufen zu vergegenwärtigen, die Glockenklang markiert. Welche Erinnerungen da verstorbene Kollegen hinterlassen, sagt wenig über Individuen, viel über Selbstentfremdung, Machtstrukturen und ein funktionierendes System konformer Wertsetzungen.
Kein Wunder, dass eine Kollegin an ihrem Humor sterben musste. "Er stand für Beständigkeit", wird hingegen ein Chef gelobt, der "Verantwortung in der Azubirunde" wahrnahm, wenn er eigenwilligen Nachwuchs gleich ausschloss. Gepriesen wird sein unübertreffliches Lebensmotto: "Gedanken, die man nicht ausspricht, verpflichten auch zu nichts."
Bekanntlich gibt es kein richtiges Leben im falschen. Desto stärker wirkt hier der Wunsch nach richtigem Leben, wenn er, punktuell wiederholt, locker zur Sprache kommt: "Und dann fahren die dahin an ihren Sehnsuchtsort, und dann ist der nicht mehr da."
infobox: "Wie viele Tage hat das Leben?" Hörspiel, Regie und Buch: Gesche Piening, Komposition: Michael Emanuel Bauer (BR/DLF, 2.2.24, 21.05 -22.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)
Zuerst veröffentlicht 09.02.2024 15:46
Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KBR, Hörspiel, Piening, Lenz
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