Jonglieren mit Narrativen - epd medien

14.06.2024 08:12

In der ARD-Serie "Wo wir sind, ist oben" zeichnen die Autoren Christian Jeltsch, Sebastian Bleyl und Anneke Jannsen ein satirisch zugespitztes Bild des Politik- und Medienbetriebs in Berlin. Die Spin-Doctoren und Lobbyisten setzen auch auf sanfte Erpressungen.

Der Lobbyist Max Lentor (Helgi Schmid) ist verletzt worden, aber er arbeitet schon am nächsten Spin

epd Als die Gruppe Segway fahrender Berlin-Touristen vor dem "Zentrum der Macht" angekommen ist, wie der Guide sich ausdrückt, läuft gerade ein adretter junger Mann mit einem Schwein auf dem Arm aus dem Kanzleramt. Wie skurril, schnell ein Handyfoto machen! Und damit Fokus auf Max Lentor (Helgi Schmid), der mit dem Sau-Stunt soeben den Beschluss befördert hat, dass Schweine künftig mit der Genschere kastriert werden - ein großer Fortschritt im Sinne des Tierwohls. Die nächsten Termine des Karriere-Überfliegers der Lobbying-Agentur ABC & Partner: ein Meeting mit einer NGO-Klientin zu Antibabypillen-Hormonrückständen im Wasser sowie eine Unterstützungsanfrage vom Verband der Braunkohleindustrie in der Lausitz. Da ist die Auftaktfolge der ARD-Serie "Wo wir sind, ist oben" noch keine zehn Minuten alt.

Mit schnellen Schnitten, angemessen nervöser Musikuntermalung und pointierten Dialogen gelingt es der achtteiligen Dramedy im Handumdrehen, ein satirisch zugespitztes Bild von der Atemlosigkeit des hauptstädtischen Politik- und Medienbetriebs zu zeichnen. Wie eine 2.0-Version der wunderbaren ZDFneo-Serie "Eichwald, MdB" kommt der Stoff von Serienschöpfer und Headautor Christian Jeltsch daher. Schon der von Bernhard Schütz verkörperte Abgeordnete Hajo Eichwald aus Nordrhein-Westfalen wusste schließlich: "In Berlin musst du die Scheiße über Bande spielen." Was bei ihm allerdings ein resignierter Stoßseufzer war, ist Max Lentors lustvoll gelebtes Credo. Der Single-Yuppie, Sneaker- und Anzugträger, der bevorzugt mit dem E-Scooter durchs Regierungsviertel gleitet, hat das Jonglieren mit Narrativen, sanften Erpressungen und Win-win-Situationen verinnerlicht und perfektioniert.

Der hodenlose Holger

"Fachbegriffe und Jahreszahlen überfordern da nur", erklärt er seiner umweltbewegten NGO-Klientin und empfiehlt ihr, beim arrangierten Auftritt in der Talkshow "Nina Well" lieber mit der (erfundenen) Geschichte eines hodenlos geborenen Mannes namens Holger zu punkten. Die zu erwartenden Fragen der Moderatorin samt vorformulierten Antworten reicht er ihr gleich mit dazu: "Auswendig lernen, ja?" Dass aus diesem Coup ausnahmsweise nichts wird, liegt an seiner neuen Lobbying-Konkurrentin Valerie Hazard (Nilam Farooq), einer aus Brüssel nach Berlin versetzten Karrieristin eigenen Ranges, die für die Pharmabranche arbeitet. Sie entlockt der überforderten NGO-Vertreterin vor der Aufzeichnung der Sendung auf der Damentoilette, dass die bereits die Fragen kennt, und veranlasst deren Austausch. Auch in rhetorischer Rücksichtslosigkeit ist sie Max absolut ebenbürtig: "Dass Sie so sanft reden - ist das eigentlich Masche oder Long Covid?", herrscht sie ihre Büroleiterin (Barbara Philipp) an.

Mit dieser Gegenspielerin fügen Jeltsch und seine Ko-Autoren dem Geschehen eine gute Prise Screwball-Comedy hinzu. Mehrfach treffen sich Max und Valerie im Fahrstuhl, bei ihren Dialog-Duellen schwingt stets die Option eines Flirts unter selbstverliebten Charismatikern mit - auch wenn Max eher homo- als heterosexuell zu sein scheint, womöglich aber ja auch bi. Geschlechtergrenzen verschwimmen hier ganz zeitgemäß: Max’ Assistent Grosny (Brix Schaumburg) etwa ist eine "person in transition", mit einem Mann verheiratet und leidenschaftlicher Vater.

Warum so vermerkelt?

Lange funktioniert diese Konstruktion hervorragend, auch dank herrlich überzeichneter Nebenfiguren: Jan-Gregor Kremp gibt den Agenturchef Dr. Janussen, der sich schon mal mitten im Gespräch entkleidet, um in seinem muschelartigen Büro-Bassin zu floaten. Und Ulrike Kriener glänzt als rauchende und trinkende Herta Zickler, "Grande dame der Strippenzieher der Bonner Republik", wie Valerie einmal ehrfürchtig feststellt. Sollte Hertas Zögling Max mal nicht weiterwissen, heitert sie ihn wieder auf ("Warum so vermerkelt?") und zeigt ihm, welche Volte als nächstes vonnöten ist.

Abgesehen davon, dass die permanente Schlagfertigkeit der Protagonisten auf der Langstrecke von acht Mal 45 Minuten ein wenig ermüden kann, ist es vor allem ein anderes erzählerisches Manöver, das den Gesamteindruck trübt: Die in ihrem Handeln prinzipienlosen, zynischen Screwball-Karrieristen sollen dann doch noch charakterliche Tiefe bekommen. Max, schon frühzeitig als gegensätzlicher Bruder der schwangeren Aktivistin CeeCee (Valerie Stoll) eingeführt, leidet an einem Kindheitstrauma, hat mit seinen Eltern gebrochen und will seinen verhassten Heimatort durch den Tagebau plattmachen. Auch Valerie pflegt ein kompliziertes Verhältnis zu ihrem wegen Waffenhandels einsitzenden Vater.

Laufen die rastlosen Spindoktoren am Ende also nur vor ihrer eigenen Familiengeschichte davon? Ohne diesen Erkläransatz wäre "Wo wir sind, ist oben" noch schwungvoller geraten.

infobox: "Wo wir sind, ist oben", achtteilige Dramedy, Regie: Wolfgang Groos, Matthias Koßmehl, Buch: Christian Jeltsch (Headautor), Sebastian Bleyl, Anneke Jannsen, Kamera: Ahmet Tan, Felix Striegel, Produktion: Isarstraßen Film (ARD/Degeto, 14.6.24, 23.50-2.50 Uhr und 15.6.24, 0.35-3.45 Uhr, sowie ab 14.6. in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 14.06.2024 10:12 Letzte Änderung: 14.06.2024 12:05

Peter Luley

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Streaming, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, Groos, Koßmehl, Jeltsch, Bleyl, Janssen, Luley, NEU

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