Die über Brüssel herrscht - epd medien

14.05.2024 07:45

In ihrer Dokumentation "Endspiel um Europa" macht Autorin Melanie Jost darauf aufmerksam, dass sich die europäische Politik in den vergangenen Jahren unter dem Einfluss rechter Parteien wie Fratelli d'Italia nach rechts bewegt hat. Sie hat europäische Abgeordnete in ihrem politischen Alltag begleitet.

Das Europäische Parlament in Brüssel

epd Allmählich dämmert es einigen, dass bald die Europawahl ansteht. Eine Wahl, die zu einem Rechtsruck im Europaparlament führen könnte. Darauf will die Dokumentation "Endspiel um Europa - Die Europäische Union am Scheideweg" von Melanie Jost die Aufmerksamkeit lenken.

Die zwei Metaphern im Titel - die eine aus dem Sport, die andere aus der Topografie - sollen wohl die Relevanz des Themas unterstreichen. Dieses Gefloskel zeigt aber auch, dass das, was im Europäischen Parlament geschieht, kaum in der medialen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Einige Gründe für diese mangelnde Wahrnehmung liefert der 53 Minuten lange Beitrag selbst. Das Europäische Parlament ist in seiner Zusammensetzung und Fraktionierung so unübersichtlich, dass auch die im Film genutzten Grafiken kaum Aufschluss liefern.

Glitzernde Glasfassaden

Wie unterscheiden sich beispielsweise die beiden rechten bis rechtsradikalen Fraktionen ERK und ID voneinander? An den Namen kann man es nicht erkennen: ERK kürzt den Titel "Europäische Konservative und Reformer" ab, der in die Irre führt, weil hier auch Parteien wie die polnische PiS-Partei organisiert sind, die europaskeptisch sind. ID wiederum bedeutet ausgeschrieben "Identität und Demokratie", was ebenfalls eine gewisse Täuschung beinhaltet, denn diese Parteien wie die deutsche AfD oder die italienische Lega wollen die Demokratie auf die begrenzen, die mit ihnen identisch sind.

Unübersichtlich geht es wohl auch im Parlament zu. Melanie Jost hat einige Abgeordnete im politischen Alltag beobachtet und zu ihrer politischen Arbeit befragt. Im Film ist zu sehen, wie eine riesige Zahl von Beschlüssen in kürzester Zeit gefasst werden muss. Die Beschlüsse werden im Parlament allein mit einer Kennzahl aufgerufen, die Abgeordneten entscheiden per Tastendruck. Dabei die Übersicht zu behalten, gestehen sie in den Interviews ein, sei nicht einfach. Der Film zeigt, dass die Arbeit der Abgeordneten vor allem darin besteht, permanent zu klären, wie die Fraktionen zu den einzelnen Themen und Beschlussvorlagen stehen. Da die Kamera aber bei diesen Sitzungen und Einzelgesprächen nicht dabei sein durfte, wie es im Kommentar einmal heißt, zeigt die Dokumentation vor allem, wie die Abgeordneten in der glitzernden Glasfassadenwelt von Brüssel und Straßburg von einem dieser Termine zum anderen hetzen.

Die Bilderarmut des Politischen ist ein generelles Problem des Fernsehens. Bei Europa-Themen scheint es sich gleichsam zu vervielfachen. So zeigten viele Bilder dieses Films statt der Politik nur Nebenhandlungen des Politikbetriebs, beispielsweise die An- und Abreisen, die Ankünfte und Verabschiedungen, die Stehempfänge und die Eröffnungsreden. Dass so eines der Vorurteile über das Europäische Parlament bestätigt wird, dass es nämlich eine mit sich selbst beschäftigte Institution sei, scheint der Filmemacherin nicht aufgefallen zu sein.

Strategische Neupositionierung

Inhaltlich hat sie etwas überaus Gewichtiges erfasst, was in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt geblieben ist: dass sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen längst manchen Positionen der rechtsextremen Parteien angenähert hat. Das kann man an abgeschwächten Beschlüssen in der Klimapolitik und an drakonischen Maßnahmen, was Flüchtlinge angeht, erkennen. Für diese Annäherung fand Melanie Jost treffende Bilder im Archiv, auf denen zu sehen ist, wie herzlich mittlerweile von der Leyen (CDU) und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI) miteinander umgehen, wenn sie gemeinsam politische Maßnahmen verkünden. Offen bleibt, wer da wen von was überzeugt hat und wer davon mehr profitiert.

Ursula von der Leyen herrsche, sagt der Journalist Eric Bonse, der viele Jahre zunächst für das "Handelsblatt" berichtete und heute unter anderem für die "tageszeitung" schreibt, "über Brüssel wie eine Königin". Auch dafür findet der Film manch treffendes Bild. In der Annäherung der Präsidentin an Positionen, die etwa von der ERK-Fraktion vertreten werden, sieht Melanie Jost eine strategische Neupositionierung, die von der Leyen ihr Amt auch für den Fall sichern soll, dass die nationalistischen und rechtsextremen Parteien bei der Europawahl weiter dazugewinnen.

Die Stimmung in Brüssel sei vor der Wahl deshalb sehr angespannt, sagt Jost im Kommentar. Und sie prognostiziert, Je mehr Rechtsextreme ins Europäische Parlament gelangen, desto mehr Blockaden könnte es dort geben. Dadurch werde die Handlungsfähigkeit Europas weiter eingeschränkt. Darin steckt eine Empfehlung, die Europawahl nicht zu ignorieren.

infobox: "Endspiel um Europa - Die Europäische Union am Scheideweg", Dokumentation, Regie und Buch: Melanie Jost, Kamera: Tilo Gummel, Mitja Hagelüken, Produktion: Taglicht Media (Arte/BR, 30.4.24, 23.35-0.20 Uhr und bis 29.7.24 in der Arte-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 14.05.2024 09:45 Letzte Änderung: 16.05.2024 10:31

Dietrich Leder

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KArte, KBR, Dokumentation, Jost, Leder, NEU

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