Unsichtbare Abgrenzung - epd medien

21.05.2024 09:51

In der ZDF-Reportage "37 Grad: Schock Schalom - jung, jüdisch, jetzt" ist wenig von Religion die Rede. Sie arbeitet heraus, dass jüdische Religiosität und jüdische Kultur nicht unbedingt identisch sind.

Meira zeigt offen, dass sie Jüdin ist

epd "Endlich mal Normalität, das wäre schön", sagt die Psychologiestudentin Alice am Ende dieser Reportage über das Lebensgefühl jüdischer Jugendlicher nach dem Terroranschlag des 7. Oktober. Das Datum ist eine Zäsur, doch die Besorgnis der Protagonisten hat tiefere Ursachen. Jan Tenhaven zeichnet ein Stimmungsbild der jüdischen Community in Deutschland. Wie Fremdkörper wirken darin die Handy-Videos, welche die Hamas-Terroristen während ihres Überfalls drehten.

Die Reportage hat eine ganz andere Dramaturgie. Leise und enttäuscht äußern sich die in Deutschland aufgewachsenen jungen Juden und Jüdinnen. Offenbar ist die Entwicklung seit dem vergangenen Herbst für sie ein Schock, aber keine Überraschung. Scheinbare Normalität kippt plötzlich wieder in Ausgrenzung und Aversionen. So wie bei Anton aus Essen. Der 29-jährige Schauspieler engagierte sich in der Jugendarbeit mit der arabischen Community. Auf seinem Youtube-Kanal Youde2043 zeichnete er das hoffnungsvolle Bild einer multikulturellen Gesellschaft. Doch "das Ganze ist gekippt", sagt Anton heute. "Mein Herz ist zu Stein geworden, nur noch für die Familie ist es warm", meint er verbittert.

Bedürfnis nach einem vertrauten Umfeld

Es sind gerade solche engagierten Jüdinnen und Juden, die sich jetzt verunsichert fühlen. Die Berliner Abiturientin Nogah berichtet von ihrer Freundschaft mit einer palästinensischen Mitschülerin, die ebenfalls große Berührungsängste hatte. Erst Monate nach dem Terrorangriff hätten sie darüber sprechen können, ihre Freundschaft hat das ausgehalten. Dennoch: Zum Fernsehinterview wollte die Freundin nicht mitkommen - aus Angst vor den Reaktionen ihres Umfeldes. Dabei ist Nogah, wie die anderen Protagonisten, keineswegs eine religiöse Eiferin. Das Krasseste an dem Hamas-Terror sei, "wie man Menschen entmenschlicht", sagt sie.

Die Kamera zeigt Close-ups von nachdenklichen Gesichtern, die Verunsicherung zeigen. Deutlich wird das starke Bedürfnis nach einem vertrauten Umfeld, einem ganz normalen bürgerlichen Alltag zwischen dem Spielen mit dem neugeborenen Baby, dem Brotbacken oder der geschwisterlichen Verbundenheit. Emily, die junge Berlinerin, die sich nicht für besonders religiös hält, zeigt Empathie auch für das Leid der Palästinenser. Doch dass diese ihrer alten Heimat Israel die Existenzberechtigung absprechen, "das macht mich traurig".

Keine Spur von Wut

In der Reportage ist wenig von Religion die Rede. Es ist erstaunlich, dass es keine Spur von Wut, Hass oder Vorurteilen gibt. Und das, obwohl die Protagonisten ein weites Spektrum abdecken: vom Rabbiner-Seminaristen Samuel bis zum Rap-Musiker Nika, der leicht verunsichert den jüdischen Feiertag Chanukka erwähnt: "Da zünden wir Kerzen an."

Deutlich arbeitet Tenhaven heraus, dass es eine jüdische Religiosität und eine jüdische Kultur gibt, dass aber die beiden Sphären nicht unbedingt identisch sind. Gleiches gilt für Israelis und die israelische Regierungspolitik. Die 20-jährige Emily bringt das auf den Punkt, die junge Berlinerin wurde in Israel geboren: "Ich bin nicht religiös, aber Israel ist Teil meiner Kindheit", sagt sie. Ihre jüngere Schwester Paula hat eine andere Alltagserfahrung. Sie geht in die vierte Klasse eines jüdischen Gymnasiums, für sie sind Polizeischutz, Zäune, Videoüberwachung und auch Terroralarm-Übungen Teil des Alltags.

Gestärkt durch äußere Bedrohungen

Die stete unsichtbare Abgrenzung prägt das Bewusstsein der jüdischen Jugendlichen. Die Münchnerin Aviva engagiert sich im Verband Jüdischer Studenten in Bayern und liefert das Bekenntnis der Diaspora: "Wir sind eine Minderheit und müssen füreinander da sein." Das ist die eigentliche Klammer der so unterschiedlichen Lebenswelten, von denen die Protagonisten berichten. Es ist das Gefühl einer Verbundenheit, gestärkt durch äußere Bedrohungen.

Alice, die Studentin, die nachts als Türsteherin vor einer Münchner Bar jobbt, sagt, sie sei keine Expertin für die Konflikte, habe auch keine Strategie. Gleich nach dem Anschlag seien plötzlich alte antisemitische Vorurteile aufgekommen. Aber dass es einen Terrorangriff gegeben hat, "das hätte man klar sagen können, da kam zu wenig".

Jan Tenhaven ist eine differenzierte und betroffen machende Momentaufnahme der jüdischen Gesellschaft gelungen. Es wäre schön, wenn das ZDF eine komplementäre Bestandsaufnahme der arabischen Community in Auftrag gäbe, die derzeit nur als aggressive Menge von Demonstranten in den Medien erscheint.

infobox: "37 Grad: Schock Schalom - jung, jüdisch, jetzt", Reportage, Regie und Buch: Jan Tenhaven, Kamera: Jasper Engel, Jörg Junge, Johannes Straub, Maurice Wilkening, Produktion: Nordend Film (ZDF, 14.5.24, 22.15-22.45 Uhr und in der ZDF-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 21.05.2024 11:51 Letzte Änderung: 21.05.2024 11:53

Dieter Dehler

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Reportage, Tenhaven, Dehler, NEU

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