Schönwetterfernsehen - epd medien

06.06.2024 10:21

Mit der Dokumentation "75 Jahre Deutschland" wollte das ZDF sowohl das Grundgesetz feiern als auch von 75 Jahren deutscher Geschichte erzählen - im Westen wie im Osten. Doch die Dokumentation mit Mirko Drotschmann hat deutliche Leerstellen.

Mirko Drotschmann testet das Wissen der Deutschen in Ost und West

epd Schon der Titel ist Quatsch, Deutschland ist natürlich älter, aber "75 Jahre Grundgesetz" klingt nicht besonders sexy. Genau genommen hätte es "34 Jahre Deutschland" heißen müssen, das ist zwar ein krummes Datum, hätte jedoch die Menschen in Ostdeutschland einbezogen. Aber die sind 1990 bloß gefragt worden, ob sie Helmut Kohl zum Einheitskanzler wählen wollen. Eine Überarbeitung des Grundgesetzes mit Blick auf ostdeutsche Befindlichkeiten war damals im Westen nicht erwünscht.

Unterschiede zwischen Ost und West spielen in der Dokumentation zwar durchaus eine Rolle, allerdings nur zu Beginn, wenn es um BRD und DDR geht. Damit die 90 Minuten sich nicht auf eine Reise durch vier getrennte und dreieinhalb gemeinsame Jahrzehnte beschränken, hat das ZDF bei der Forschungsgruppe Wahlen eine Umfrage in Auftrag gegeben: In den 32 Punkten ging es im Wesentlichen um Politik und Zeitgeschichte, aber auch zum Beispiel um den Eurovision Song Contest. Und weil Befragungen in Fußgängerzonen so alt sind wie das deutsche Fernsehen, sind sie neben Rückblicken, Gesprächen mit einer Historikerin sowie Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein weiteres Element von "75 Jahre Deutschland".

Eine gute Wahl

Die Männer und Frauen, alte wie junge, offenbaren mitunter zwar peinliche Wissenslücken, doch die repräsentative Umfrage des Instituts ist zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Wirklich sensationell sind sie dennoch nicht. Etwas bizarr ist, dass sich ostdeutsche Befragte deutlich besser an Konrad Adenauer (62 Prozent) als an Walter Ulbricht (29 Prozent) erinnern. Dass Willy Brandts Devise "Mehr Demokratie wagen" offenbar nicht mehr zum Allgemeinwissen gehört, mag bedauerlich sein, aber 1969 ist schon lange her. Dass im Westen nur 40 Prozent den Begriff "Friedliche Revolution" mit den Ereignissen im Herbst 1989 assoziieren, mag ein weiterer Beleg für die Ignoranz in den alten Bundesländern sein, doch im Osten sind es auch nur 67 Prozent.

Bei vielen anderen Aspekten wurde auf die Unterscheidung zwischen Ost und West verzichtet. Das ist bedauerlich, denn die Antworten hätten Aufschluss über unterschiedliche Gewichtungen geben können. Grundsätzlich steht die Bedeutung konkreter historischer Ereignisse natürlich außer Zweifel, aber wichtiger als das exakte Jahr des Mauerbaus ist die Tatsache als solche zu kennen.

Mirko Drotschmann, dank "MrWissen2go" bei Funk und "Terra X" vom jungen Publikum wie von der ZDF-Zielgruppe als kompetent geschätzt, ist für Sendungen dieser Art eine gute Wahl. Bei den Gesprächen mit den Prominenten wird er des Öfteren nickend oder lächelnd in Zwischenschnitten gezeigt, das wirkt ein bisschen eitel, dürfte aber eher der Montage anzulasten sein. Entscheidend ist der gute Draht, den er offenkundig zu allen Beteiligten gefunden hat, ganz gleich, ob auf der Straße oder im Gespräch mit Wolf Biermann.

Deutliche Leerstellen

Wie viele solcher Sendungen mutet auch das Potpourri "75 Jahre Deutschland" zeitlich und inhaltlich mitunter sprunghaft und unstrukturiert an. Das Konzept erinnert an eine Checkliste und funktioniert zugleich nach dem Apropos-Prinzip. So geht es fröhlich hin und her, vor und zurück. Doch es gibt deutliche Leerstellen. Stellenweise erinnert die Dokumentation an eine Festaktrede zum Firmenjubiläum, bei der die dunklen Seiten der Unternehmensgeschichte ausgeblendet werden. Sabine Bier und Roland May (Buch und Regie) gedenken zwar der vielen Menschen, die bei ihrer Flucht aus der DDR ermordet wurden, sparen die Nachwendezeit jedoch aus. Das gilt nicht nur für die sogenannten Baseballschlägerjahre und die rassistischen Anschläge auf Asylbewerberheime, sondern auch für die Eingemeindung des Ostens und die damit verbundenen massenhaften Verluste von Arbeitsplätzen. Auch das Kohl-Zitat von den "blühenden Landschaften" fehlt.

Zwar wird der Terror der RAF dokumentiert, nicht jedoch die Morde des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds. Warum? Weil die einen Verbrechen schon so lange zurückliegen, dass sie im kollektiven West-Gedächtnis fast so etwas wie BRD-Folklore geworden sind? Und die anderen einen Schatten auf die jüngere deutsche Geschichte werfen würden? Mit der Befreiung der "Landshut"-Geiseln befassen sich Bier und May ausführlich, die GSG 9 wird noch mal gefeiert. Bei der Aufklärung der NSU-Verbrechen hat sich der Staat hingegen nicht mit Ruhm bekleckert. Auch die Erschießung Walter Lübckes (2019) oder die Morde von Hanau (2020) bleiben ausgespart. Dafür gibt es fußballerische Gänsehautmomente. FKK in der DDR geht auch immer.

Dabei ist Vergangenheit doch vor allem deshalb interessant, weil sie die Basis für die Gegenwart ist. Doch die recht westlastige Dokumentation zieht keine Linien von der bitteren ostdeutschen Enttäuschung nach der Wiedervereinigung zum aktuellen Erfolg der AfD. So bleiben viele Chancen ungenutzt, das Gestern mit dem Heute zu verknüpfen. Immerhin mahnt Wolfgang Thierse gegen Ende mit Blick auf den Rechtsruck: Nun werde sich erweisen, ob unsere Demokratie eine Schönwetterdemokratie ist. So gesehen ist "75 Jahre Deutschland" Schönwetterfernsehen.

infobox: "75 Jahre Deutschland. Der große Test", Dokumentation mit Mirko Drotschmann, Regie und Buch: Sabine Bier, Roland May, Konzept und Leitung: Stefan Brauburger (ZDF, 21.5.24, 20.15-21.45 Uhr und in der ZDF-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 06.06.2024 12:21

Tilmann Gangloff

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KZDF, Dokumentation, Drotschmann, Blier, May, Gangloff

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