10.06.2024 15:00
epd "Alles sagen" - das verspricht eine im Herbst 2023 gestartete Serie der drei im Medienverbund Westfalen zusammengeschlossenen Blätter "Ruhr Nachrichten", "Hellweger Anzeiger" und "Recklinghäuser Zeitung", für die Rumble - ein gemeinsames Tochterunternehmen der Verlage - nun den Nova Innovation Award des BDZV gewonnen hat. "Niemand wird eingesperrt, der die Regierung kritisiert. Jeder darf sagen, was er denkt, auch wenn sich andere empören", schreibt Chefredakteur Jens Ostrowski zur Ankündigung der Serie.
Aber dennoch: Jeder vierte Deutsche habe, "laut Umfragen", die im Text nicht näher benannt werden, Hemmungen, seine Meinung zu äußern. Und auch die Redaktion selbst untermauert dies mit einer nicht repräsentativen Umfrage unter 3.300 ihrer Abonnenten. Mit "Alles Sagen" wolle sie ein halbes Jahr lang der Meinungsfreiheit in Deutschland auf den Grund gehen, "sachlich und ohne Populismus, aber indem wir sagen, was ist".
Wie viel Verkürzung und Populismus freilich schon in Rudolf Augsteins überstrapaziertem Diktum stecken, scheint die Redaktion übersehen zu haben.
Das "Alles sagen"-Portfolio besteht aus drei Leserumfragen, Überblicksartikeln mit von der Redaktion kuratierten Leserreaktionen, Meinungs- und Erklärstücken, Experteninterviews sowie bislang zwei Podcastfolgen. Inhaltlich widmet man sich den erwartbaren Aufregerthemen: Gendern, Ausländerkriminalität, Klimawandel, Integration, "Negerkönig", "Mohrenkopf" und "Zigeunersoße", vermeintlich mangelnde Meinungsfreiheit an Universitäten. Im Zentrum stehen also jene "Triggerpunkte", die in einer eher wenig polarisierten Gesellschaft - so vereinfacht gesagt die These der Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser - für emotionalisierte Diskussionen sorgen.
Mehr "Raunen, was sein könnte" als "Sagen, was ist" steckt in einem Kommentar von Investigativreporter Ulrich Breulmann, der postuliert, Debatten über Verbote von Wörtern (hier etwa: "Schwarzfahren") tauchten "dann gerne auf, wenn andere, wirkliche Krisen eigentlich unsere volle Aufmerksamkeit erforderten". Warum das so sei, darüber wolle er lieber nicht spekulieren.
Die Frage, warum die Redaktion derlei Debatten trotz so vieler anderer, wirklicher Krisen so viel Platz einräumt und sich zur Beratung sogar ein vierköpfiges Expertenteam an Bord geholt hat, lässt der Kommentar unbeantwortet. Das ganze Dilemma der Argumentation, es gebe doch so viel Wichtigeres, bringt ein von der Redaktion veröffentlichter Leserkommentar treffend, wenn auch vermutlich unfreiwillig, auf den Punkt: "Ich frage mich manchmal wirklich, ob es nicht wichtigere Dinge im Leben gibt, als sich über solche Dinge aufzuregen. (Sorry, ich rege mich schon wieder auf.)"
Ist das die dringend nötige Versachlichung, zu der die Redaktion erklärtermaßen beitragen will?
In einem Artikel heißt es, neben immer mehr Stadtverwaltungen, Unternehmen und Universitäten führten auch das ZDF und die ARD-Sender Gender-Sonderzeichen ein - ganz so, als gebe es bei den Öffentlich-Rechtlichen in Sachen Gendern eine einheitlich vorgegebene Linie. Ist das die dringend nötige Versachlichung, zu der die Redaktion mit der Serie erklärtermaßen beitragen will?
Um fair zu bleiben: Viele "Alles sagen"-Artikel bemühen sich um Ausgleich, beleuchten ihr Thema von mehreren Seiten und sind deutlich differenzierter, als es Clickbait-Titel wie "Der verlogene Klima-Ablasshandel. 'Wenn ich das Wort Flugscham höre, kriege ich Blutdruck'" vermuten lassen. Das in der Unterzeile hervorgehobene Zitat entpuppt sich als eine fast fünf Jahre alte, für den insgesamt eher serviceorientierten Artikel nicht zentrale Aussage des damaligen Flughafen-Chefs aus Hannover.
Stell dir vor, da wird behauptet, es gebe eine Schweigespirale, aber alle lärmen mit: "Alles sagen" bietet mit großer Pose Themen und Positionen Platz, die täglich debattiert und ständig geäußert werden. In sozialen Netzwerken, Talkshows, Podcasts, Nutzerkommentaren, im Privaten - allen gefühlten Sprechverboten zum Trotz. Das kann man machen. Innovativer als Reizwörter und provozierende Themen wie Köder auszuwerfen wäre es, zu einem echten Dialog über gesellschaftliche "Triggerpunkte" einzuladen und Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zu konstruktiven Debatten zusammenzubringen. Wie das gehen kann, hat "Die Zeit" mit ihrem Projekt "My country talks" vorgemacht.
Copyright: Foto: privat Darstellung: Autorenbox Text: Dominik Speck ist freier Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationalen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund.
Zuerst veröffentlicht 10.06.2024 17:00 Letzte Änderung: 11.06.2024 10:18 (Rumble gehört zu den Gewinnern des Nova Innovation Award 2024, dies wurde nach der Bekanntgabe im Text aktualisiert.)
Schlagworte: Medien, Presse, Speck, BDZV, Innvoation, Meinungsfreiheit, Journalismus, NEU
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