Viele Plattitüden - epd medien

16.06.2024 08:59

Seit Anfang Juni leitet der WDR-Journalist Markus Preiß nicht mehr das ARD-Studio in Brüssel, sondern das Hauptstadtstudio in Berlin. Für die Dokumentation "Europa, die Wahl und wir" ist er kreuz und quer durch Europa gereist, um mit Menschen über die Zukunft der Europäischen Union zu sprechen.

Markus Preiß war bis Ende Mai Europakorrespondent in Brüssel

epd Ein Film zur Europawahl, der ohne Eindrücke aus Brüssel oder Straßburg auskommt - auf den ersten Blick ist das eine erfrischende Idee. Markus Preiß reist in "Europa, die Wahl und wir" in seine thüringische Heimat, in die französische Provinz ebenso wie nach Litauen und Polen, um die Frage "Wie geht es uns also mit der EU und was bringt sie uns?" zu beantworten. Für Preiß ist diese Dokumentation, die er zusammen mit Daniela Agostini gemacht hat, auch eine Art persönlicher Abschlussfilm nach knapp acht Jahren als Brüssel-Korrespondent. Seit Anfang Juni leitet er das ARD-Hauptstadtstudio in Berlin.

Er kehre damit in das "sicher wichtigste Land der EU" zurück, erklärt Preiß gleich zu Beginn des Films, bleibt einen Beleg für diese Aussage jedoch schuldig und setzt damit den Ton für den ganzen Film. Denn das "Wir" ist vor allem ein deutsches "Wir" - allen Recherchen im Ausland und der ständigen, letztlich aber vagen Beschwörung von positiven Europa-Narrativen wie dem der Friedensgarantin zum Trotz.

Aus deutscher Perspektive

In Frankreich kommen Beschäftigte einer Fabrik des Landmaschinenherstellers Claas zu Wort, nachdem Preiß zuvor den ostwestfälischen Stammsitz der Firma besucht hat, denn natürlich darf eine Episode zur beflügelnden Wirkung des europäischen Binnenmarktes für den deutschen Mittelstand nicht fehlen. In Litauen besucht das Filmteam den dort geplanten zukünftigen deutschen Bundeswehr-Stützpunkt und begleitet eine NATO-Übung mit deutscher Beteiligung. Die Bundeswehr sei in Litauen sehr willkommen, europaskeptische Stimmen höre man kaum, sagt Preiß.

Es ist ein gängiges Mittel der Auslands-Berichterstattung ebenso wie der Berichterstattung über die Europäische Union, die Situation anderswo vor allem aus der Perspektive des eigenen Landes zu beleuchten. Dennoch erstaunt, wie sehr diese ARD-Dokumentation eine starke Rolle Deutschlands in der EU als segenbringend hervorhebt.

Am Schluss zieht Preiß das eher banale Fazit, ihm sei klar geworden, wie sehr "unsere europäischen Nachbarn" auf Deutschland schauen: "Wie sehr sie Deutschland brauchen. Als Wirtschaftsmotor, als Sicherheitsgarant, als stabiles politisches Zentrum der Gemeinschaft." Kein Wort dagegen verliert der Film zu Nord Stream 2, zur gerade im Baltikum und in Polen kritisch gesehen deutschen Sicherheits- und Russlandpolitik. Auch die deutsche Europapolitik im "Isch-over"-Stil bleibt unerwähnt, für einen öffentlich-rechtlichen Film zur Europawahl ist das ein grobes Versäumnis.

Anonymes Brüssel

Auch die Darstellung der Europäischen Union ist wenig reflektiert. Zutreffend stellt der Film zwar fest, dass wohl auch die Maßnahmen der EU gegen das Polen der PiS-Regierung dazu beigetragen haben, noch gravierendere Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit zu verhindern. Doch dass Brüssel lange nur zugeschaut hat, bleibt ebenso unerwähnt wie kritische Debatten darüber, ob die EU mit Blick auf neue geopolitische Konfliktlagen tatsächlich als Sicherheitsgarantin fungieren kann.

Der Ansatz, die Brüsseler und Berliner Blasen, von denen Preiß am Anfang des Films spricht, zu vermeiden, ist begrüßenswert, doch die EU selbst bleibt für eine Dokumentation zur Europawahl erstaunlich blass und anonym. Ob man damit den von Preiß in der thüringischen und französischen Provinz vorgefundenen "Die-da-oben"-Gefühlen oder seiner Diagnose, wie fremd manchen Menschen die europäische Idee sei, entgegenwirken kann, sei dahingestellt.

Verschiebung der Tektonik

Der Ansatz, mit Bürgerinnen und Bürgern zu sprechen, etwa mit Clubbesucherinnen in Berlin, einem Grenzer an der litauischen Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad, einem polnischen Richter, der unter der PiS-Regierung suspendiert worden war, oder Mitgliedern eines Fußballvereins in Thüringen, geht nicht auf. Zu lose, zu unverbunden erscheinen die einzelnen Erzählstränge, zu wenig Zeit nimmt sich die Dokumentation, um all diese Themen zu entfalten und wiederum auf die Europawahl zurückzubinden. Preißt erwähnt in seinem Film, der vor der Europawahl gesendet wurde, zwar die Gefahr, die Europa aufgrund der erwarteten Verschiebung der politischen Tektonik nach rechts droht, die möglichen Konsequenzen bleiben aber vage.

Das erzählerische Stilmittel, dass Preiß nach seinen Gesprächen ständig Dinge begreift, die die Gespräche aber gar nicht immer hergeben, ermüdet auf Dauer. "Europa, die Wahl und wir" wird so zu einer Ansammlung von Plattitüden, die an Wahlplakate erinnern. "Für mich ist Europa unser Weg in die Zukunft in einer Welt, die rauer geworden ist" - diese holperige "persönliche Antwort" gibt Preiß am Ende auf seine eingangs gestellte Frage, was "uns" die Europäische Union bringt. Doch der Film liefert weder Belege dafür, warum das so ist, noch zeigt er auf, wie sich die EU verändern müsste.

infobox: "Europa, die Wahl und wir", Dokumentation, Regie und Buch: Markus Preiß, Daniela Agostini, Kamera: Oliver Biebl, Martin Kießling, Produktion: Doclights (ARD/WDR, 6.6.24, 20.15-21.00 Uhr und in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 16.06.2024 10:59 Letzte Änderung: 17.06.2024 11:08

Dominik Speck

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KWDR, Dokumentation, Europa, Preiß, Agostini, Speck, NEU

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