Präzise beobachtet - epd medien

28.02.2024 13:51

Im fünfteiligen Mystery-Hörspiel "Cheap Dreams" geht Autor und Regisseur Tino Kühn Fragen der Zeit nach. Die Geschichte, in der Journalistin Sophie zu dem mysteriösen Versandhandel Quando recherchiert, ist auch gesellschaftskritisch.

Das Hörspiel "Cheap Dreams" steht in der ARD-Audiothek

epd Stellen Sie sich vor, eine Art Anti-Amazon würde das nächste große popkulturelle Ding werden, das sich weit über die Grenzen des Online-Shoppings hinaus auf unsere Gesellschaft auswirkt. Nicht, weil der Service schneller oder die Arbeitsbedingungen besser wären. Das Gegenteil ist der Fall: Über die Umstände der Arbeitnehmer von Cheap Dreams, wie dieses ominöse Unternehmen heißt, ist nichts bekannt. Und es bricht auf radikale Weise mit dem Versprechen der Lieferung am nächsten, wenn nicht sogar noch am gleichen Tag.

Genau das ist das Hauptverkaufsargument. Wer bei Quando bestellt, dem Versandhandel von Cheap Dreams, wartet auf sein Paket vielleicht einen, vielleicht zehn, vielleicht Tausende Tage - oder er stirbt im hohen Alter, ohne Konsumgut X je erhalten zu haben. Immerhin bekommen Quando-Kunden die Ware stets zum halben Preis. Der ist aber sofort zu zahlen.

Dass dieses Konzept von Cheap Dreams in der fiktiven Welt des SWR-Hörspiels von einer stetig wachsenden Gruppe zum Konzept der Befreiung von kapitalistischen Zwängen, gar zu dem (!) neuen Lebensweg stilisiert wird, ist die Ausgangslage für die erste Episode dieser fünfteiligen Serie. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Bedeutung von Zeit und wie wir diese zu nutzen und zu schätzen wissen.

Reise ins Innere des Unternehmens

Die investigative Journalistin Sophie Bergmann, die Protagonistin des Hörspiels, recherchiert zu dem Unternehmen. Und je mehr sie erfährt, desto mysteriöser werden die Geschehnisse in "Cheap Dreams".

Sophie versucht herauszufinden, wer und was hinter dem Unternehmen steckt und nimmt die Hörer mit auf ihre Reise ins Innere von Quando. Das lässt das Hörspiel zu Beginn wie einen Podcast wirken, der SWR nennt es "Mockumentary". Ab der zweiten Episode nehmen die Mystery-Elemente allerdings zu, deshalb ließe sich "Cheap Dreams" auf zweierlei Weise besprechen: ein erstes Mal für die Auftaktfolge und ein zweites Mal für den Rest der Geschichte. Anders würde man dem nicht nur popkulturell vielschichtigen Manuskript von Tino Kühn, der bei "Cheap Dreams" auch Regie führte, kaum gerecht.

Denn der 32-minütige Auftakt verdient für sich allein eine deutliche Empfehlung. Auch für alle Hörer, die mit der folgenden Mystery-Rätseljagd weniger anfangen können. Kühn gelingt es in der ersten Folge auf wunderbare Weise, den Grundstein für die ganze Handlung zu legen und nebenbei die Konsumgesellschaft zu persiflieren.

Neue Puzzleteile

Da sind die jungen Marktradikalen, die noch an das Aufstiegsversprechen glauben und dem CEO von Cheap Dreams und seinen Weisheiten im Podcast-Gespräch an den Lippen hängen: "Der Burnout ist ein Ritterschlag." Da sind der Pressesprecher und die Streamerin, die aus gewohnten Strukturen ausbrechen, zwischen den Arbeitstagen gelegentlich leben wollen - und somit den bisweilen auch in der realen Welt medial herbeifantasierten Archetypen des "faulen jungen Menschen" repräsentieren. Und da sind die, die das Konzept von Quando zur Norm machen und gesellschaftlich ausweiten wollen, so dass jeder in den Genuss des Wartens kommen muss. Sich an der Straße festzukleben oder mit dem Traktor nach Berlin zu fahren, war gestern - die Protestbewegung in "Cheap Dreams" will Stromleitungen kappen und Züge aufhalten.

Nahezu jeder Satz in Tino Kühns Manuskript ist ein Treffer. Im Minutentakt verwandelt der Autor präzise beobachtete gesellschaftliche Phänomene in scharfzüngige Satire. Wäre der Rest von "Cheap Dreams" nicht ebenfalls auf hohem Niveau, hätte der Schritt in Richtung Mystery schade sein können. So aber offenbaren die restlichen vier Folgen Stück für Stück neue Puzzleteile, die sich erst am Ende zu einem großen Ganzen zusammenfügen.

Gesellschaftskritik

Der Schauspieler und Autor Tino Kühn will viel erzählen und reichert seine Geschichte bis zum Ende ständig mit neuen Ideen an - zu einem der wichtigsten Konzepte in der Welt von "Cheap Dreams" fiel bis hierhin noch kein Wort und das soll an dieser Stelle auch nicht vorweggenommen werden. Dabei wird von Künstlicher Intelligenz über persönliche Krisen bis hin zur System- und Gesellschaftskritik einiges behandelt und ebenso viel den Hörerinnen und Hörern zur eigenen Reflexion überlassen. Das klingt nach drohender Überrachtung, doch Kühn gelingt es immer wieder, sein Manuskript noch rechtzeitig einzufangen.

"Cheap Dreams" ist hochwertig produziert und vertont. Alice Dwyer spricht Sophie Bergmann mühelos als humorvolle und emphatische Journalistin, bei ihr sitzen auch die emotionalen Hoch- und Tiefpunkte. In den weiteren Rollen sind Felix Goeser als Cheap-Dreams-Chef und Felix Strobel als zwielichtiger Pressesprecher hervorzuheben. Einzig das Sounddesign nervt manchmal mit seinen allzu zahlreichen Störgeräuschen. Speziell in der vierten Episode wird dieses erzählerische Stilmittel deutlich überstrapaziert und trübt den Hörgenuss ein wenig. Dem sehr guten Gesamteindruck tut das aber keinen Abbruch.

infobox: "Cheap Dreams", Hörspiel in fünf Teilen, Regie und Buch: Tino Kühn (SWR2, 25.2.24 18.20-20.00 Uhr und 3.3.24, 18.20-19.20 Uhr und seit 15.2.24 in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 28.02.2024 14:51

Christopher Hechler

Schlagworte: Medien, Kritik, Radio, Kritik.(Radio), KSWR, Hörspiel, Kühn, Hechler

zur Startseite von epd medien