Zerfall einer Südstaatenfamilie - epd medien

28.05.2024 08:18

Das vierteilige SWR-Hörspiel "Schall und Wahn" nach dem gleichnamigen Roman von William Faulkner durchdringt schlaglichtartig die Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts in den Südstaaten der USA.

epd Wie es sich wohl anfühlt, Anfang des 20. Jahrhunderts als geistig Behinderter in den Südstaaten Amerikas zu leben? Immerhin ist Benjamin, genannt Benjy, ein Weißer, also in der sozialen Hierarchie nicht ganz unten. Und er ist Spross der einst angesehenen Familie Compson, die in ihrem alten Herrensitz ausharrt und nach und nach auseinanderfällt. Umsorgt von schwarzer Dienerschaft, ist Benjy von seiner Familie als weitere Last mehr oder weniger akzeptiert - Gott habe sie eben gestraft, wie die Mutter immer wieder klagt, da fällt Benjy fast nicht mehr ins Gewicht.

Schon der erste Teil des Hörspiels "Schall und Wahn", Walter Adlers Hörspielbearbeitung von William Faulkners gleichnamigem Schlüsselwerk von 1929, nimmt so kraftvoll wie sensibel die Herausforderung eines Perspektivexperiments an: Christoph Franken spricht den oft wie versehentlich lyrisch verdichteten Bewusstseinsstrom Benjys mit wohldosierter Einfalt, zwischen Staunen und hingenommenem Nichtbegreifen. Ohne Atempause schneidet Regisseur Adler hier die Sätze aneinander, sie kommen und gehen.

Ziemlich schlau arrangiert

Für die anderen Figuren bestehen Benjys Äußerungen nur aus tierhaften Lauten. Benjys scheinbar gleichgültiger, ausschnitthafter Sicht, von Faulkner in Anlehnung an James Joyce' "Ulysses" verfasst, geben Adler und Franken somit eine akustische Entsprechung. Das verlangt beim Hören einige Konzentration und enttäuscht die Erwartung, im ersten Teil schnell die wichtigsten Fakten zu erfahren. Was Vater, Mutter, Geschwister und die Bediensteten sprechen, wobei sich Letztere übrigens auch gegenseitig schon mal mit dem "N-Wort" maßregeln, wirkt oft zusammenhanglos. Es entsteht fast der Eindruck des Switchens.

Seinen multiperspektivischen Roman mit Benjys Sicht beginnen zu lassen, ist schon ziemlich schlau arrangiert von Faulkner: Es ist, als sollten wir selbst ein wenig von dieser Haltung annehmen. Und es fällt ja auch nicht schwer, zumal wir als reizüberflutete Menschen des 21. Jahrhunderts ganz gut begreifen, was beschränkte Aufmerksamkeit ist. So schiebt sich Bild um Bild ins Sichtfeld Benjys, Menschen und Dinge, fast wie im Modus eines stumpfen Medienkonsumenten. Vieles beunruhigt ihn kurz, doch es geht letztlich alles an ihm vorüber.

Gesteigerte Innerlichkeit

Faulkners Arbeitstitel war übrigens "Twilight", bevor er sich für "The Sound and the Fury" (voller Schall und Wut) entschied, ein Zitat aus William Shakespeares "Macbeth". Jeder der vier Teile umkreist dieselben familiären Geschehnisse aus einer anderen Figurensicht.

Das zweite Kapitel springt zurück ins Jahr 1911, diesmal schlüpfen wir in den Kopf von Benyjs älterem Bruder Quentin (Johannes Nussbaum; als Kind: Lionel Jenkins). Faulkners Sprache verwandelt sich dabei radikal, hin zu einem hohen Stil gesteigerter Innerlichkeit. Man ahnt es: Der depressive Intellektuelle der Familie wird sein Leben beenden, im Wasser, dem Symbol für die geliebte und pathologisch-patriarchalisch bewachte Schwester Caddy (Elisa Schlott; als Kind: Maya Morgeneyer).

Ton und Sprache ändern sich im dritten Teil abermals, hin zu irrer Wut: Da hat der jüngste Bruder Jason das Wort, der nach dem Alkoholtod des Vaters (Sylvester Groth) zum Familienoberhaupt aufstieg. Geschäftstüchtig ist er, vor allem aber rassistisch, frauenfeindlich und sadistisch. Robert Dölle verleiht diesem wahren Unsympathen vor dem Herrn eine knurrig-charismatische Schärfe.

Räume und Menschen

Geradezu erholsam der Duktus schließlich des letzten Teils: Erst darin installiert Faulkner einen auktorialen Erzähler, liefert der Text Beschreibungen von Räumen und Menschen, ohne vermittelt und abgefälscht zu sein durch die inneren Kämpfe einer Figur. In diesen von Ulrich Noethen sanft intonierten Passagen fährt Faulkners Sprache dennoch surreale, fast irre Vergleiche auf, etwa wenn da ein Mann "ruhig hinter dem Steuer eines kleinen Wagens saß, von seinem unsichtbaren Leben umschlockert wie von einer ausgeleierten Socke".

Nur in diesem letzten Teil steht eine weibliche Figur im Zentrum, die betagte Hausangestellte Dilsey Gibson (Nicole Heesters). Jedoch ist nicht sie selbst die narrative Instanz; sie bleibt, wenn auch ein mit Würde und Selbstbehauptung ausgestattetes, Objekt. Der Erzähler beschreibt ihre verwitterte Gestalt, ihre Geduld mit den Schwächsten der Familie, aber auch ihr selbstbewusstes Dagegenhalten gegenüber weißer Arroganz, der weinerlichen Hausherrin Mrs. Caroline Compson (Judith Engel) und dem tyrannischen Jason.

Faulkners zu seiner Zeit provokant modernes Werk wirkt in diesem Hörspiel mit seinen nur sachte illustrierenden, realistischen Geräuschen zeitgemäß und herausfordernd zugleich. Es entfaltet nach und nach eine fast schon befremdliche Zugänglichkeit: Sind wir nicht längst durch die anspruchsvolleren unter den neueren Serien und Filmen mit diesem Erzählprinzip vertraut? Bei Faulkner und Adler lässt sich begreifen, dass diese Technik, wenn sie sich nicht im L'art pour l'art erschöpft, schlaglichtartig eine Zeit und eine Gesellschaft zu durchdringen vermag, ohne diese auf den einen, alles erklärenden Begriff herunterzubrechen oder in ein Deutungsmuster zu zwingen.

infobox: "Schall und Wahn", vierteiliges Hörspiel nach dem gleichnamigen Roman von William Faulkner, Hörspielbearbeitung und Regie: Walter Adler (SWR Kultur, 19.5, 20.5, 26.5. und 30.5.24, jeweils 18.20-20.00 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 28.05.2024 10:18

Cosima Lutz

Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KSWR, Lutz, Adler

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