05.06.2024 12:49
epd Die Deutschen und ihre Fußballnationalmannschaft: Das ist spätestens seit dem sensationellen Titelgewinn bei der Weltmeisterschaft 1954 ein ganz besonderes Verhältnis. Kein Wunder, dass manchmal ein kleiner Stein genügt, um in unserer überreizten Mediengesellschaft große Wellen zu schlagen. Gegen Ende seiner Dokumentation zitiert Philipp Awounou das Ergebnis einer Umfrage, die Infratest Dimap im Auftrag des WDR gemacht hat: Jeder fünfte Deutsche fände es besser, "wenn wieder mehr weiße Spieler in der deutschen Nationalmannschaft spielen".
Angesichts der Wahlerfolge extrem rechter Parteien ist das keine Überraschung, trotzdem war der Aufschrei groß. Das sei "rassistisch", hieß es aus dem Kreis der DFB-Elf. Ein zorniger Julian Nagelsmann sprach bei einer Pressekonferenz von einer "Scheiß-Umfrage". Vermutlich kannte der Bundestrainer den Kontext nicht, sonst wäre seine Reaktion wahrscheinlich anders ausgefallen.
Awounou beschäftigt sich seit Jahren unter anderem für den "Spiegel" oder die "Zeit" mit Rassismus im Sport. In der Sendung geht er der Frage nach, was es aussagt, dass die Nationalmannschaft längst eine "Internationalmannschaft" ist, wie die ausländische Presse schon anlässlich der WM 2010 mit Bewunderung feststellte. Anders formuliert: Taugt die Tatsache, dass die Familien vieler Spieler eine Migrationsgeschichte haben, als Beleg für eine Integrationsgesellschaft?
Die WDR-Dokumentation ist die perfekte Ergänzung zur Dokumentation "Fußballwunder", in der Manfred Oldenburg entlang der Entwicklung der DFB-Elf seit 1954 deutsche Zeitgeschichte erzählt. Ein Vergleich der beiden Produktionen wäre allerdings nicht fair: Um das Thema Vielfalt geht es "Fußballwunder" zwar auch, aber eben nicht nur. Awounou kann einige Beispiele, die Oldenburg nur streift, ausgiebig vertiefen, allen voran Mesut Özils Rücktritt aus der Nationalmannschaft, als der Spielmacher zum Sündenbock für das frühe Ausscheiden bei der WM 2018 gemacht wurde. Anschließend warf Özil dem DFB Rassismus vor.
Awounous Film schließt an die Dokumentation "Schwarze Adler" von Torsten Körner an. Seine Gesprächspartner sind klug und gut gewählt, die wichtigsten sind Gerald Asamoah, geboren in Ghana, und Jonathan Tah, Hamburger mit ivorischen Wurzeln. Die Dokumentation zeigt, wie Asamoah, damals noch im Trikot von Hannover 96, 1997 beim Relegationsspiel in Cottbus beschimpft wurde: "Haut den Neger raus", sangen die Fans. Anschließend müssen die beiden erst mal tief durchatmen, dann kommentiert Tah: "Das ist krass."
Das sei sogar noch harmlos gewesen, sagt Asamoah. Awounou liefert die passenden Bilder aus den "Baseballschlägerjahren": Menschen, die auf der Straße "Deutschland den Deutschen skandieren", dazu der Mordanschlag von Solingen im Mai 1993. Türkische Freunde, erinnert sich der Soziologe Aladin El-Mafaalani, hätten damals mit ihren Eltern geübt, wie sie sich bei Feuer im Haus verhalten.
13 Jahre nach Solingen feierte das Land seinen vermeintlich harmlosen "Party-Patriotismus" mit Deutschlandfahnen an den Autos. Der Fußball erwies sich wieder mal als einheitsstiftend, aber als Vielfaltstifter taugte er offenbar nicht: Anschließend, zitiert Awounou aus einer Langzeitstudie, seien die Deutschen noch nationalistischer und fremdenfeindlicher eingestellt gewesen als vorher - dieser Teil des "Sommermärchens" werde nur selten miterzählt.
Tuğba Tekkal, in Hannover geborene ehemalige Profikickerin mit kurdisch-jesidischen Wurzeln, erinnert sich, wie ihr als Kind zu verstehen gegeben worden sei, sie habe hier nichts verloren. Erst auf dem Fußballplatz habe sie "das Gefühl von Freiheit" gespürt. Dieses Gefühl wollte sie auch anderen ermöglichen, deshalb hat sie die Empowerment-Initiative "Scoring Girls" gegründet. Zu den großen Momenten des Films gehört die Anekdote, wie ergriffen eins der Mädchen bei der Frauen-EM 2022 auf die Einwechslung von Nicole Anyomi reagiert hat: "Sie sieht aus wie ich!"
Tekkal ging es ähnlich, als Asamoah bei seinem DFB-Debüt 2001 ein Tor schoss. Awounou spricht von einem "unsichtbaren Band": Sie alle eint die Erfahrung, anders zu sein, ausgegrenzt oder sogar gehasst zu werden. Die Kamera zeigt Fotos und Schlagzeilen, die der Filmemacher wie bei einer Fallwand aus dem TV-Krimi an Zaunteilen befestigt hat. Ein Bild zeigt die Fahndungsfotos der NSU-Mitglieder Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe.
Tah sagt, er sei stolz darauf, wie sich die Gesellschaft in den letzten 20 Jahren weiterentwickelt habe. Awounou kontert im Kommentar mit den Morden von Halle und Hanau und den Remigrationsfantasien gewisser Kreise. El-Mafaalani betrachtet solche Diskussionen als gutes Zeichen: Sie seien der Beleg dafür, dass sich etwas verändert habe.
Die Kritik an der Umfrage hatte sich an der Antwortvorgabe durch das Meinungsforschungsinstitut entzündet. Diese lautete: "Ich fände es besser, wenn wieder mehr weiße Spieler in der deutschen Nationalmannschaft spielen." In der Sendung "Hart aber fair" verteidigte Awounou am 4. Juni die Formulierung mit dem Hinweis auf die "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung, die unter anderem "Der Nationalsozialismus hatte auch gute Seiten" als Antwort anbiete.
infobox: "Einigkeit und Recht und Vielfalt - Die Nationalmannschaft zwischen Rassismus und Identifikation", Dokumentation, Regie und Buch: Philipp Awounou, Kamera: Jacques Zaunbrecher, Fynn Freund, Ayse Alacakaptan u. a., Produktion: Supa.Stories (ARD/WDR, 5.6.24, 21.30-22.15 Uhr und seit 2.6.24 in der ARD-Mediathek)
Zuerst veröffentlicht 05.06.2024 14:49
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KWDR, Dokumentation, Awounou, Nationalmannschaft, Rassismus, Gangloff
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