Lange Haare, Tangoschritt - epd medien

12.06.2024 09:09

Das RBB-Hörspiel "Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet" von Tucké Royale macht ähnlich wie Quentin Tarantino in "Inglorious Basterds" mit Nazis kurzen Prozess und erzählt die Geschichte eines Tänzers, der als Frau verkleidet auch im Widerstand aktiv war.

epd Ihre Beine sind lang, aber sehr kurz ist der Prozess, den die Tänzerin Dolores mit ihren deutschen Opfern in Argentinien macht: "Auf dem Kontinent, von dem ich komme", schnurrt sie halb zu sich selbst, halb im Smalltalkmodus, sei ihr Tanzpartner Erich Priebke SS-Hauptsturmführer gewesen: "Die Erschießung von 335 italienischen Zivilisten in den Ardeatinischen Höhlen, wir erinnern uns? Erichs informierte Zunge schmeckt das Arsenikum im Cocktail. Zu spät." Wir hören kurz seinen Todeskampf. Thea Ehre spricht so bruchlos und nonchalant, fast gelangweilt, als erzählte sie eine Anekdote vom letzten Kaffeehausbesuch und nicht davon, wie sie einen Nazi killt.

"Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet" heißt das 2017 im Berliner Maxim-Gorki-Theater uraufgeführte Theaterstück, das der Autor, Regisseur, Schauspieler und Musiker Tucké Royale "ein jüdisch-queeres Rachemusical" nennt. Auf der Bühne ließ der unter anderem im Puppenspiel ausgebildete Royale die Figuren in entindividualisierenden Masken und Kostümen auftreten: Nazis trugen schwarze Eimer über dem Kopf, Dolores eine filigrane, riesige Maske wie aus weißem Papier.

Geschichte wird korrigiert

Bei so viel Form und Abstraktion ist die Vorstellungskraft gefordert. Die Hörspielbearbeitung wartet mit gegenüber dem Bühnenwerk veränderter, aber ebenso brillanter Besetzung auf: Zwischen ihren Morden an hochrangigen NS-Funktionären, die im realen Leben in Argentinien ihre beschaulichen Lebensabende verbrachten, gurrt, knurrt und säuselt Hauptdarstellerin Thea Ehre lässig ihre Verse: "Da kommt die SA nicht mit. Lange Haare, Tangoschritt!" Jahrmarkts- und unterweltaffin spielt die Band um Angy Lord eine kneipenselige, nachtschattige Mixtur aus Tango Argentino und Klezmer.

Es erinnert auch ein wenig an Quentin Tarantinos "Inglorious Basterds", wie leichtfüßig und brutal hier Geschichte umgeschrieben, man möchte sagen: korrigiert wird. Erich Priebke etwa, zu seinem 90. Geburtstag noch mit Ehren bedacht, starb 2013 hundertjährig und weitgehend unbehelligt in Rom. Aber auch andere, die über die "Rattenlinie" nach Lateinamerika entkommen konnten, kriegen hier die eine oder andere Handgranate ab. Die Parteinahme gegen Dolores' Mordopfer geschieht ganz geschmeidig. Schon befindet man sich moralisch jenseits von Gut und Böse.

Auch wenn die revuehafte Leichtigkeit das nicht unbedingt nahelegt: Dem Stück liegt eine beeindruckende und bewegende Recherche zugrunde. 1914 geboren und in Galizien aufgewachsen, traten Sylvin und seine Zwillingsschwester Maria Rubinstein unter den Namen Imperio und Dolores zwischen den Weltkriegen in ganz Europa als Tanzpaar auf. Als Widerstandskämpfer im besetzten Polen führte Sylvin einige seiner Taten in Rock und Pelz gehüllt aus. Während es ihm 1943 gelang, als Krankenschwester verkleidet von Warschau nach Berlin zu gelangen, wurden Maria und ihre Mutter in Treblinka getötet. Nach dem Krieg trat Sylvin auch in Frauenkleidern auf und nannte sich Dolores.

Kühle Rachemorde

Mit wenigen, aber wirkungsvollen atmosphärischen Umgebungsgeräuschen und ausschnitthaft dichten Beschreibungen des Erzählers und vor allem Dolores' tupft Royale ein realismusgesättigtes Bild jener Zeit hin, in das sich die kühl ausgeführten Rachemorde so stimmig einfügen, dass sie einfach wahr sein mögen. Schon in der Traumatherapie gilt es, trotz besserem Wissen eine alternative Erzählung im "Als-Ob"-Modus zu erschaffen. Also etwa den Vergewaltiger umzubringen. Das Hirn dankt es einem, und niemand muss wirklich sterben. So balsamisch funktioniert auch "Dolores".

Die erzeugte Entlastung lenkt auch die Aufmerksamkeit darauf, sich mit der realen Geschichte der von den Nazis als "asozial" stigmatisierten Opfer zu befassen: Jenischen, Obdachlosen, Prostituierten und anderen Minderheiten. Wie es Royale schon 2015 in seinem "Zentralrat der Asozialen - ZAiD" tat. Dennoch besteht sein Theaterverständnis nicht darin, möglichst authentisch Minderheiten-Identitäten abzubilden, wie er im Gespräch mit dem Theaterkritiker Jakob Hayner darlegte: "Man weiß doch sowieso, dass die Realität da ist, also kann man sie auch kurz vergessen oder ästhetisch verdrängen. Oder besser: eindrücken. Darin liegt das Politische des Theaters."

Royale bewahrt die Würde der realen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung nicht nur, indem er mit Grandezza die Hässlichkeit der Geschichte für die kurze Dauer einer Stunde umschreibt. Sondern auch dadurch, dass er dabei auf dramatische Wendungen verzichtet. Die beinah Vergessenen müssen nicht für Nervenkitzel herhalten, sondern sind cool und tun einfach das Beste, das sie tun können. Der Revuecharakter ist also stimmig, die ganze Erzählung steuert damit ohne Umschweife aufs Ziel zu. Für Dolores kann das nicht mehr lauten, mit Nazis allzu ausführlich zu reden. Nicht nach Treblinka.

infobox: "Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet. Ein jüdisch-queeres Rachemusical", Regie und Buch: Tucké Royale, Musik: Angy Lord, Tucké Royale u. a. (Radio3, 7.6.24, 19.00-20.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 12.06.2024 11:09

Cosima Lutz

Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KRBB, Hörspiel, Royale, Lutz

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