19.06.2024 08:51
Matthias Spielkamp zur Diskussion über Künstliche Intelligenz
"Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden." Wir sollten uns diesen Satz des legendären Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke immer wieder in Erinnerung rufen, wenn wir Debatten über Technologien auf dem Höhepunkt von Hype-Zyklen führen, wie es aktuell bei der sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) der Fall ist. Ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten werden als grenzenlos beschrieben, vor allem, seitdem ChatGPT veröffentlicht wurde. ChatGPT ist eine Software, die Texteingaben in natürlicher Sprache versteht und in der Lage ist, teils beeindruckend gute Antworten auf unterschiedlichste Fragen zu geben.
Der Vorschuss-Jubel kann einem bekannt vorkommen. Erst kamen Kybernetik und Expertensysteme, irgendwann Big Data und die Cloud, dann KI. Jedes Mal hieß es, sie würden quasi automatisch unser aller Leben besser machen, solange man nur den Entwicklungen ihren Lauf lasse. Wir erinnern uns an die vermeintlich fundamentale Kränkung des Menschen durch den Sieg des "KI"-Systems Deep Blue über Garri Kasparow vor inzwischen 26 Jahren (ganz ohne maschinelles Lernen) und die damit verbundenen grundstürzenden Veränderungen, die vermeintlich als Folge direkt vor der Tür standen.
Künstliche Intelligenz ist längst Bestandteil unseres Alltags.
Tatsächlich hat KI schon heute unser Leben massiv verändert. Doch eher nicht so, wie es anfangs prophezeit wurde.
Denn zum einen ist Künstliche Intelligenz längst normaler Bestandteil unseres Alltags. Frei nach Douglas Adams Bonmot, dass "Technologie das Wort ist für Sachen, die noch nicht funktionieren", sind Navigationssysteme, die Internetsuche oder automatische Übersetzungen Beispiele für hochentwickelte KI-Systeme, die wir als solche gar nicht mehr wahrnehmen. Denn - so ausgefuchst die Technologie dahinter ist: Diese Systeme tun einfach, was sie sollen.
Doch was ist aus den Fortschritten geworden, die uns KI-Entwickler mit Weltverbesserungs-Gestus seit Jahren auch für die großen Menschheitsprobleme ankündigen? Von den gewaltigen Errungenschaften bei der Bekämpfung des Klimawandels und des Hungers auf der Welt, die seit etwa 25 Jahren angekündigt werden, ist weiterhin nichts zu sehen - eher ist das Gegenteil der Fall.
ChatGPT und Konsorten verbrauchen unfassbare Mengen an Energie.
Denn zwar halten die KI-Missionare an ihrem Narrativ fest, dass KI auf der einen Seite zwar Risiken berge, auf der anderen Seite aber enorme Chancen biete. Und Risiken sind ja nur potenzielle Schäden, die noch nicht eingetreten sind - also alles halb so wild!
Doch die Schäden sind längst da - und zwar in unserer Gegenwart. ChatGPT und Konsorten verbrauchen unfassbare Mengen an Energie und so viel Wasser, dass in Südamerika Salzwasser ins Trinkwassersystem eingespeist wird, weil das Süßwasser Datenzentren kühlt. In digitalen Sweatshops korrigieren Menschen für zwei Dollar pro Stunde den übelsten Unsinn, den die angeblich so schlauen Chatbots produzieren, und Konzerne wie OpenAI, Microsoft und Google reißen sich für das Training ihrer Modelle die kreativen Leistungen von Millionen echter Menschen unter den Nagel - ohne jegliche Vergütung. Zugleich werden weltweit wohl Zehntausende Frauen täglich mit KI-generierten Darstellungen sexueller Handlungen gedemütigt.
Diejenigen, die die magischen Fähigkeiten von KI beschwören, dürfen das Eintreten ihrer Prognosen unwidersprochen in die Zukunft verschieben.
Dennoch sitzen auch die Vereinten Nationen (UN) der "Chancen-und-Risiken"-Erzählung auf - oder treiben sie bewusst voran. Der Zwischenbericht "Governing AI for Humanity" des kürzlich gegründeten "High-Level Advisory Body on AI" der Vereinten Nationen vom Dezember 2023 nennt unter "frühzeitig erkennbare Möglichkeiten, um auf den Klimawandel zu reagieren" ("early promises of AI helping to address climate change") Folgendes: "Durch die Nutzung fortschrittlicher Klimamodelle in Verbindung mit Daten über urbane Mobilität und Verhaltensmuster können neue Frühwarnsysteme geschaffen werden, um eine wirksamere Hilfeleistung bei Konflikten oder Katastrophen und beim Wiederaufbau zu ermöglichen."
Diesen Einsatz zur Schadensbekämpfung und -begrenzung hochzujubeln als Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise kann man bestenfalls als Sarkasmus, schlimmstenfalls als Zynismus verstehen angesichts der Tatsache, dass KI - und allen voran "generative KI" - nicht nur bei Training und Inferenz, also ihrer Anwendung, gewaltige Mengen Energie, Wasser und seltene Erden verbraucht, sondern auch Geschäftsmodelle wie Musik- und Video-Streaming, Social Media und E-Commerce erst ermöglicht, die maßgeblich dazu beitragen, die Klimakrise zu verschärfen. Ganz zu schweigen von Produktionsbedingungen, die man gemeinhin als Manchesterkapitalismus bezeichnen würde.
Wer das benennt, wird schnell als fortschrittsfeindliche/r Maschinenstürmer/in abgestempelt. Diejenigen dagegen, die die magischen Fähigkeiten von KI beschwören, fast immer vor dem Hintergrund eigener finanzieller Interessen, dürfen das Eintreten ihrer Prognosen unwidersprochen in die Zukunft verschieben: Irgendwann werde KI dafür sorgen, dass es uns allen besser geht. Irgendwann. Und darum müssen wir mit den Schäden leben, die KI verursacht - und auf keinen Fall etwas dagegen tun, da das ja "Innovationen" hemmen könnte.
Neuer Wohlstand wird immer irgendwie verteilt, und nur wenn man dafür kämpft, dass er zum Gemeinwohl beiträgt, bleiben die Profite nicht ausschließlich bei den Unternehmen liegen.
Das ist gefährlicher Unsinn. Schon immer haben politische Kämpfe darüber entschieden, wie Schäden und Wohlstandsgewinne als Folge technischer Entwicklungen aufgeteilt wurden. Die weltweit fünf größten Internet-Technologie-Riesen - Apple, Alphabet-Google, Amazon, Meta und Microsoft - haben im Jahr 2023 gemeinsam 313 Milliarden Dollar Gewinn verbucht. Nahezu alle Versuche, einen angemessenen Teil davon in die Steuerkassen fließen zu lassen und die Unternehmen für negative Folgen ihres Handelns zur Verantwortung zu ziehen, verlaufen im Sande. Das zeigt sehr deutlich, wie die Macht derzeit verteilt ist zwischen Gemeinwohl und Privatinteresse.
Hier kann "KI Made in Europe" tatsächlich helfen. Es sollte klar sein, dass technologische Entwicklungen niemals von allein dazu beigetragen haben, dass unser Wohlstand gewachsen ist. Dieser Eindruck wird aber erweckt, wenn es heißt: "Wir haben bisher immer von Automatisierung und Produktivitätswachstum profitiert." Falsch. Nicht profitiert haben unsere Ur-Ur-Großmütter und -väter, die erst einmal bitterlich verarmten, bevor sie sich zusammenschlossen und für ihre Rechte kämpften (was nicht wenige von ihnen mit ihrem Leben bezahlen mussten), so dass nachfolgende Generationen stärker an den Produktivitätsgewinnen beteiligt wurden.
Neuer Wohlstand wird immer irgendwie verteilt, und nur wenn man dafür kämpft, dass er zum Gemeinwohl beiträgt, bleiben die Profite nicht ausschließlich bei den Unternehmen liegen. Wer uns "Luddites" (die Textilarbeiter*innen, die gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen im Zuge der Industriellen Revolution kämpften und dabei auch gezielt Maschinen zerstörten) nennt und es als Herabsetzung oder sogar Schimpfwort meint, offenbart vor allem eins: Geschichtsvergessenheit.
infobox: Algorithm Watch ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich dafür einsetzt, dass Algorithmen und Künstliche Intelligenz Gerechtigkeit, Demokratie und Nachhaltigkeit stärken, statt sie zu schwächen. Sie hat Sitze in Berlin und Zürich.
Was "KI made in Europe" nicht bedeuten sollte: "National Champions" dabei zu unterstützen, sich Monopolstellungen zu verschaffen - Aleph Alpha statt OpenAI/Microsoft, Mistral AI statt DeepMind/Google, Zalando statt Amazon, Lieferando statt Uber ist wie Shell statt Standard Oil, ThyssenKrupp statt US Steel, Telefonica statt AT&T, Siemens statt General Electric. Wir brauchen keine Protein-Shakes für zukünftige Monopolisten, sondern digitale öffentliche Infrastrukturen für Entwicklungen, die das Gemeinwohl fördern.
Das heißt, wir müssen all das gleichzeitig tun:
Ja zum strikten Verbot des Einsatzes von KI für Überwachung, Manipulation und Ungleichbehandlung.
Ja zu effektiver Monopolkontrolle (in Deutschland und auf Ebene der Europäischen Union).
Ja zu gesetzlich verankerten Sorgfalts- und Transparenzpflichten für Unternehmen - und einer Durchsetzung, die den Namen verdient.
Ja zu Vergaberegeln, die dafür sorgen, dass Produkte und Dienstleistungen nur von Unternehmen eingekauft werden, die sich an Mindeststandards halten (rund 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU wird für den Einkauf von Produkten und Dienstleistungen der öffentlichen Hand ausgegeben).
Und auch: Ja zu Forschungsförderung für Unternehmen, die sinnvolle (!) Anwendungen von KI entwickeln wollen.
Wenn wir nicht reagieren, verspielen wir unsere Zukunft.
Und wir müssen endlich eine ehrliche Debatte darüber führen, woher die Kompetenzen kommen sollen, die wir dafür brauchen, die Herausforderungen, die der Einsatz von KI selbst für unsere Gesellschaft bedeutet, zu bestehen. Jedes Jahr verlassen 20 Prozent der Schüler*innen unsere Schulen als funktionale Analphabeten. Die Leistungen sind seit dem Pisa-Schock vor 23 Jahren nicht besser, sondern schlechter geworden. Unser Bildungssystem hinterlässt eine Schneise der Vernachlässigung.
Wenn wir hier nicht reagieren, verspielen wir unsere Zukunft und werden eine Re-Feudalisierung unserer Gesellschaft erleben - mit einer herrschenden Klasse von Digitalisierungs- und "KI-Gewinner*innen und einer dienenden Klasse algorithmisch gemanagter Lakaien.
Copyright: Foto: Julia Bornkessel, CC BY 4.0 Darstellung: Autorenbox Text: Matthias Spielkamp ist Journalist und Autor sowie Gründer und Geschäftsführer von Algorithm Watch. Er ist regelmäßig Sachverständiger in Anhörungen des Europäischen Parlaments und Europarats.
dir
Zuerst veröffentlicht 19.06.2024 10:51 Letzte Änderung: 19.06.2024 18:16
Schlagworte: Medien, Internet, Künstliche Intelligenz, KI, Dokumentation, Spielkamp, NEU
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