Sonst existierst du nicht - epd medien

20.06.2024 08:11

In dem Hörspiel "Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt" erinnert sich der Sänger und Autor Schorsch Kamerun an seine Jugend in Timmendorf, wo alles sauber und ordentlich sein sollte.

epd Das kann sich heute kaum mehr ein nach 1990 geborener Mensch vorstellen: Es gab einmal eine Zeit, in der die modische Nicht-Auswahl für Jugendliche sogar im Westen "Jeans und Parka" lautete. Wer fernab der Metropolen etwas Anderes tragen wollte, heißt es in "Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt", habe mühselig analog danach suchen oder die Klamotten gleich selbst herstellen müssen. "Und das wurde dann von Lehrern und anderen Schülern nicht gerne gesehen, und schon war man ein Außenseiter." Bis hin zum Schulverweis.

Heute wird oft vergessen, dass die ursprüngliche Antihaltung des Punk sich nicht einfach auf eine bloße Attitüde des nicht weiter reflektierten Unangepasst- und Dagegenseins reduzieren lässt. Wie viel Einsamkeit, Druck und Angst ein Pubertierender in der Provinz auszuhalten hatte, wenn die örtlichen Autoritäten (vor allem Lehrer) das Beschweigen von Naziverbrechen vor der eigenen, sauberen Haustür zu ihrer Hauptaufgabe erhoben, hat der Regisseur, Autor und Sänger der Punkband "Die Goldenen Zitronen" Schorsch Kamerun zum Ausgangspunkt seines neuen Hörspiels gemacht - und dabei sein eigenes Theaterstück "Cap Arcona" verarbeitet.

Unerwünschte Erinnerung

Kamerun und seine Leidensgenossin Stefanie alias "TNT Feuersalamander" (Luisa Böse) erleben in ihrer Jugend am Timmendorfer Strand, wie der vom Fremdenverkehr lebende Badeort sich die "Gammler" vom Leib hält und dafür bauliche und andere Lösungen findet, Rasenflächen sperrt, Bänke abmontiert, die Seebrücke mit Flutlichtern bestückt, um die nächtlichen Strandpartys zu verderben. Cafébetreiber hängen Schilder an die Tür mit der Aufschrift "Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt". Was ist da los, warum diese Abwehr?

Unerwünscht sind nicht nur die Erzählenden; unerwünscht ist es auch, an ein Kriegsverbrechen zu erinnern, das sich unweit des Timmendorfer Strandes ereignete, 18 Jahre vor Kameruns Geburt: der von den Deutschen vermutlich provozierte britische Abschuss des mit Tausenden KZ-Häftlingen beladenen Schiffes "Cap Arcona". Die Nazis hatten sämtliche Rettungsboote zerstört und die Notausgänge blockiert. Kein Häftling sollte in die Hände der Alliierten geraten, man ließ die Menschen im Meer ertrinken. Kurz nach Kriegsende wurden vor Ort Erlebnisfahrten zum Wrack organisiert. Über die Aale in der Bucht heißt es, sie seien "jahrelang besonders fett, besonders zahlreich" gewesen. "Essen wollte sie niemand." Für die Toten gibt es heute ein Denkmal.

Bewegender Monolog

Halb dokumentarisch collagierend, halb poetisch verdichtet, dazwischen aufgelockert durch nah am Sprechgesang balancierende Lieder mit betont minimalistischer Synthesizer-Begleitung, tastet sich das Hörspiel Schicht für Schicht in Kameruns eigene Biografie und die Geschichte des Ortes vor. Zwischen beiden verlaufen eine Vielzahl von Verbindungen; und es scheint, dass die Geschehnisse umso heftiger nach einer Rekonstruktion verlangen, je mehr sich die Erzählenden von solchen Zusammenhängen befreien zu können glaubten.

Das geheime Herzstück ist ein bewegender längerer Monolog einer älteren Frau, die zu den fleißigen, ordnungsliebenden Vermieterinnen am Timmendorfer Strand gehört. Für Minuten wird deutlich, welchen auch therapeutischen Wert nicht nur für Einzelne, sondern für eine Gesellschaft es hätte, würden die Generationen einander mehr zum Erzählen bewegen und einander zuhören.

Die alte Dame spricht zu "Thomas" (wie Kamerun bürgerlich heißt) und erinnert sich daran, dass sie sich im Alter von drei Jahren aus dem Elternhaus entfernt und zum 150 Meter entfernten Strand bewegt habe, unbemerkt von ihrer schwer depressiven, verwitweten Mutter. Wie sie dort eine gaffende Menge sah, aber selbst nichts erkannte, "ich war ja so klein und sah nur die Menschen von unten". Wie sie später von Albträumen geplagt wurde, sich selbst als "taub" empfand, als würde sie "nicht leben", keine Schmerzen spürte und sich schließlich auf die Arbeit stürzte und stützte. "Was anderes kannte ich nicht: du musst arbeiten, sonst existierst du nicht."

Wenig Zuwendung

Die Kriegskindergeneration mit ihrer Erfahrung von Mangel an materieller und emotionaler Sicherheit erscheint in diesem Hörspiel nicht nur als Kontrast zu ihren Punker-Kindern. Einige von ihnen folgen ganz ähnlichen Glaubenssätzen des Ausbruchs und der Flucht. Es berührt, wenn die alte Frau - seine Mutter offenbar - zu Thomas sagt, dass sie beide als Kinder zu wenig Zuwendung abbekommen hätten. Es habe nur jeder andere Schlüsse daraus gezogen und anders darauf reagiert: "Du mit heftigem Protest, und ich mit Arbeit." Und dem Dogma, dass alles "sauber und ordentlich" zu sein habe. Hauptsache dem beklemmenden Lebensmuster der Altvorderen entgehen und nicht verhungern.

Solche aufblitzenden Analogien lässt Kamerun unkommentiert, wie sich überhaupt in der Montage die einzelnen Teile nicht allzu gefällig miteinander verschränken wollen oder sollen. Dazwischen, wie kleine Inserts, baut der Autor wiederkehrende, typische Hundehalter-Äußerungen ein, wie man sie in jedem deutschen Park und an jedem (Hunde-)Strand hört oder gar selbst sagt: "Ja, fein, ja komm mal her, kommst du jetzt mal her, ja fein", was augenblicklich umschlägt in ein unwirsches "Nein, neeeein, neeeein, was hab ich gesagt!?" Vielleicht, so könnte man diese überzeitlichen Hund-Mensch-Interaktionen interpretieren, sind die Menschen wie sie sind, weil es immer Hunde gibt, die noch zum Schlechtesten von ihnen aufschauen.

infobox: "Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt", Hörspiel, Regie und Buch: Schorsch Kamerun nach seinem Theaterstück "Cap Arcona" (WDR3, 15.6.24, 19.04-20.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 20.06.2024 10:11

Cosima Lutz

Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KWDR, Hörspiel, Kamerun, Lutz

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