In der Hit-Wolke - epd medien

15.07.2024 10:38

Die ARD-Dokureihe "Angela Merkel - Schicksalsjahre einer Kanzlerin" zeigt, dass sich die ehemalige Bundeskanzlerin durchaus neu entdecken lässt, meint Thomas Gehringer.

Angela Merkel 1991 als neue Bundesministerin für Frauen und Jugend in ihrem Büro in Bonn

epd Die häufig unterschätzte Angela Merkel wusste auch musikalisch zu überraschen. Zu ihrem Abschied wünschte sie sich Nina Hagen, Hildegard Knef und ein Kirchenlied. Die Bundeskanzlerin, die gerne die Festspiele in Bayreuth und Salzburg besuchte, wählte für den Großen Zapfenstreich eine wilde Mischung, die wie ein Appell zur Einheit anmutete: zwei populäre Lieder aus Ost und West, das eine frech und rotzig, das andere sentimental, sowie der ökumenische Hit "Großer Gott, wir loben Dich". Das Stabsmusikkorps der Bundeswehr dazu zu bringen, Nina Hagen zu spielen, war wirklich ein schöner letzter Coup. Micha, der den Farbfilm vergessen hat, findet am Ende auch in Tim Evers' Doku-Serie seinen Platz.

Überhaupt spielt die Musik darin eine große Rolle. Sie packt die oft unterhaltsame und anregende Mischung aus Archivausschnitten und Interviews in eine leicht benebelnde Hit-Wolke. Der Autor versammelt eine interessante Mischung aus meist pointiert formulierenden Frauen und Männern vor der Kamera. Insbesondere die Publizistinnen Marina Weisband und Samira El Ouassil fallen mit klaren und klugen Gedanken auf.

Ansätze von Selbstkritik

Merkels ehemaliger Kanzleramtschef, Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière, liefert einige bemerkenswerte Innenansichten und sogar Ansätze von Selbstkritik. Auch die von Schauspielerin Anna Thalbach gesprochenen Kommentare aus dem Off stören nicht allzu sehr, weil sie kurz und präzise sind, auch mal einen ironischen Tonfall anschlagen und nur selten abgedroschene Floskeln bemühen, in denen Merkel etwa zur "Meisterin des Pragmatismus" wird.

Den filmischen Takt gibt allerdings die Musik vor, die sich permanent einmischt und zwischendurch immer wieder das süffige Gefühl verbreitet, einer historischen Chartshow beizuwohnen. Die häufig verwendete Splitscreen-Montage knüpft zudem an die Ästhetik der Musikvideos aus den 1980er Jahren an.

Ob das wie gewünscht auch die Generation der unter 30-Jährigen anspricht, die mit der Kanzlerin Merkel groß geworden ist und für die hier stellvertretend die Klima-Aktivistin Carla Reemtsma zu Wort kommt? Die Millennials werden durch den Journalisten Tilo Jung und Youtuber LeFloid repräsentiert, dessen Merkel-Interview im Jahr 2015 einige Resonanz auch in den etablierten Medien erzielte. Jedenfalls ist klar ersichtlich, dass die politische Zeitgeschichte "leicht zugänglich" aufbereitet werden sollte, wie die Produzentinnen Birgit Rasch und Ramona Bergmann erklärten.

Keinesfalls belanglos

Dennoch heißt "leicht zugänglich" in diesem Fall keineswegs belanglos und oberflächlich, auch wenn allein der Titel einiges befürchten ließ. "Angela Merkel - Schicksalsjahre einer Kanzlerin" fügt sich aus Anlass von Angela Merkels 70. Geburtstag am 17. Juli in eine Reihe von zeitgeschichtlichen Porträt-Filmen über die Queen, König Charles und zuletzt die Familie Kennedy ein, die die Produktionsfirma Looksfilm für die ARD realisierte. Immer mit dem Titel-Zusatz "Schicksalsjahre", der gefühlige Hofberichterstattung aus der Schlüsselloch-Perspektive erwarten lässt. Dem Film über Angela Merkel wird das nicht gerecht.

Zwar wird nicht zum ersten Mal (und wohl auch nicht zum letzten Mal) versucht, sich der Persönlichkeit hinter der Fassade der Politikerin zu nähern. Durchs Schlüsselloch muss dabei niemand blicken. Das Archiv gibt nach 16 Jahren Kanzlerinnenschaft genügend Stoff her, der sich auch in Zukunft bei jedem weiteren Film über Merkel zu einer eigenen Erzählung neu zusammensetzen lässt.

Dem Autor scheint das Vorläufige seiner Arbeit bewusst gewesen zu sein, eine abschließende historische Bewertung der Ära Merkel behauptet die Serie nicht, auch wenn es an Kritik insbesondere gegenüber ihrer Osteuropa-, Energie- und Migrations-Politik nicht mangelt und Wladimir Putin mehrfach in Erscheinung tritt.

zitat: Sie kennen mich.

Tim Evers betont vornehmlich Merkels bis heute andauernde Außenseiterrolle, nennt ihren Aufstieg "auch eine Art Migrationsgeschichte" und belegt mit Archivausschnitten, wie sich die junge Frau aus dem Osten, die sich gegen alle - zumeist männlich-westdeutschen - Widerstände durchsetzte, allen eindeutigen Zuschreibungen widersetzte. Merkel wollte nichts "Typisches" sein, nicht die aus dem Osten, nicht links oder rechts, keine Feministin, auch keine typische Konservative.

"Sie kennen mich", Merkels Schlüsselsatz aus dem Bundestagswahlkampf 2013, wird clever als Ausgangspunkt gesetzt und nahezu ins Gegenteil verkehrt. Am Ende entsteht das Gefühl, dass sich die angeblich so vertraute, jedenfalls verlässliche und meist ziemlich langweilige Angela Merkel durchaus neu entdecken lässt.

Wären da nur nicht manche Musikschnipsel. Bei der Auswahl der Titel hätte man sich mehr das Prinzip Merkel vom Großen Zapfenstreich gewünscht, also eine wilde, kreativ zusammengestellte Mischung statt dieser einfallslosen, bisweilen sogar peinlichen Hit-Liste. Natürlich dürfen die Scorpions und David Hasselhoff nicht fehlen, und wenn in einem Interview das Stichwort Manager fällt, wird garantiert der "Manager"-Song von Rio Reiser angespielt. Die Puhdys sind mit "Langstreckenlauf" vertreten, ansonsten bleibt das ostdeutsche Musik-Erbe weitgehend außen vor.

Musikalischer Holzhammer

Das musikalische Leitmotiv liefert Kate Bush. Das macht immerhin insofern Sinn, als der Song "Running Up That Hill" zu Merkels Kampf mit den Männern und ihrem Sisyphos-Zitat passt. Außerdem sollte der Song eigentlich "A Deal With God" heißen, womit auf Merkels Herkunft als protestantische Pfarrerstochter verwiesen wäre. Und der jüngeren Generation dürfte das Lied durch die Netflix-Serie "Stranger Things" bekannt sein.

Häufig wird allerdings der musikalische Holzhammer ausgepackt. Wenn Merkel im November 2015 im Umfrage-Tief steckt, flötet Sarah Connor "Der Applaus ist längst vorbei und Dein Herz ist schwer wie Blei". Und als Merkels plötzliches Zittern beim Empfang des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Juni 2019 für Aufsehen und Besorgnis sorgt, wird ernsthaft "No Time to Die" von Billie Eilish eingespielt. Den richtigen Ton zu treffen, ist dieser "Schicksalsjahr"-Produktion nicht immer gelungen.

infobox: "Angela Merkel - Schicksalsjahre einer Kanzlerin", fünfteilige Dokumentation, Regie und Buch: Tim Evers, Kamera: Jean Schablin, Produktion: Looksfilm (ARD/RBB/SWR/MDR, seit 8.7.24 in der ARD-Mediathek sowie am 15.7.24, 22.30-0.00 Uhr im Ersten)



Zuerst veröffentlicht 15.07.2024 12:38 Letzte Änderung: 22.07.2024 11:47

Thomas Gehringer

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, Gehringer, Dokumentation, BER, NEU

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