Imposanter Protagonist - epd medien

12.03.2024 10:50

Die 3sat-Dokumentation "Ultraorthodox - Der Kampf des Rabbi Akiva" kommt nicht ohne die üblichen Gestaltungsmittel aus, ist wegen der bemerkenswerten Geschichte aber trotzdem sehenswert.

Rabbi Akiva Weingarten auf der Staten Island Ferry vor New York

epd Der Begriff "Heldenreise" wird auch bei der Präsentation dokumentarischer Projekte gern verwendet. Gemeint ist, dass ein sympathischer Protagonist dramatische Entwicklungen durchmacht und damit Interesse erregt. In dieser Hinsicht hat "Ultraorthodox" sogar noch mehr zu bieten als es zunächst scheint. Im letzten Drittel gewinnt die einstündige Doku an höchst aktueller Brisanz.

Zunächst geht es darum, wie der Rabbiner Akiva Weingarten sich aus der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde im US-amerikanischen Bundesstaat New York löste, in die er 1984 hineingeboren wurde. Offenbar handelt es sich um die gleiche rund 40.000 Menschen starke chassidische Gemeinde, die besonders durch die Netflix-Serie "Unorthodox" und Deborah Feldmans zugrunde liegendes Buch bekannt wurde - das erwähnt die Dokumentation allerdings nicht.

USA ohne Freiheit

Weingarten wuchs dort jiddischsprachig ohne Fernsehen, Kino und Internet auf. Zwar habe er eine im Prinzip glückliche Kindheit gehabt, sagt er, doch "die anderen hatten Partys, Mädels, Spaß im Leben, und wir mussten leiden". Das Paradox, gerade in den USA Freiheit nicht leben zu dürfen, wurde ihm bewusst. Während seines Studiums in Israel, wo er ultraorthodox geheiratet und drei Kinder bekommen hatte, beschloss er, ohne die Familie nach Deutschland zu gehen und dort sein Leben so zu gestalten, wie er es sich persönlich wünschte.

Den befürchteten Bruch mit seiner Mutter bedeutete das nicht. Diese kommt ausführlich auf Englisch in der Dokumentation zu Wort und äußert Verständnis für den Weg ihres Sohns. Nach dem Judaistik-Studium in Berlin gründete Weingarten 2020 eine liberale jüdische Gemeinde in Dresden.

Ging es im Film bislang um den erfolgreichen Ausstieg, geht es nun um Weingartens Kampf ums Sorgerecht für seine beiden minderjährigen Töchter in Israel. Bei "Überraschungsbesuchen", die zeitweise die einzige Gelegenheit zum Kontakt mit ihnen darstellten, ist die Kamera dabei und zeigt, dass die auch voneinander getrennten Mädchen gern beim Vater leben würden. Die jüngere Tochter sucht der Vater in Hebron auf, "in den besetzten Gebieten". Dort, in wenigen hundert Metern Entfernung von Palästinensern, bestehe eine "ganz klare physische Gefahr", getötet zu werden, sagt er. Es wirkt, als wäre die Szene nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober gedreht worden. Doch so war es nicht. Bereits im Sommer 2023 wurde dem Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Seither leben die Töchter in Dresden.

zitat: Wir sind hier, um zu bleiben.

Man kann sich ausmalen, wie schwierig es gewesen sein muss, solch eine juristische Auseinandersetzung in Israel von Deutschland aus zu führen, und verstehen, dass die Dokumentation und ihr Protagonist die mehr denn je verfahrene Gemengelage im Westjordanland nicht weiter schildern. An Anstößen weiterzudenken mangelt es dennoch nicht, auch weil sich Weingartens neue Synagoge inklusive Thoraschule und Unterkunft für "Aussteiger", also weitere ehemalige Ultraorthodoxe, am Alten Leipziger Bahnhof in Dresden befindet. Von dort aus wurden einst Juden in die Vernichtungslager deportiert. "Wir sind hier, um zu bleiben", sagt der Rabbi bei der offiziellen Eröffnung unter einem neu angebrachten Davidstern.

So imposant der Protagonist, so bemerkenswert die Geschichte ist, die sowohl auf die fortwirkende Vergangenheit wie auf aktuelle Konflikte verweist und in drei Kontinente führt, so sehr bleibt die filmische Umsetzung leider in den Grenzen des üblichen Dokumentarfernsehens. Davon zeugt ganz besonders die übervolle Tonspur. Für den fast durchgehenden Musikteppich wird meist Piano-Untermalung eingespielt, selbst wenn Weingarten und seine Mutter über die Deportationen in den Holocaust sprechen. Nur beim gemeinsamen Kochen und wenn der Rabbi Akiva aus "Tewje, der Milchmann" zitiert, erklingt kurz eine Klezmer. Wenn die Kamera die Besuche bei den Töchtern in Israel zeigt, untermalen dies Spannungsbeats.

Und obwohl die beredten Erzählungen des Rabbi und seiner Mutter das vergangene und das laufende Geschehen gut deutlich machen, fasst ein sporadisch einsetzender Off-Kommentar alles noch einmal zusammen. Mitunter verwirrt dieser Kommentar eher, etwa wenn er von der "Gemeinde" spricht und damit sowohl Weingartens eigene in Dresden als auch die ihm gegnerisch gegenüberstehende ultraorthodoxe meint.

Auch der Kultursender 3sat traut seinem Publikum offensichtlich nicht zu, sich ohne die üblichen Gestaltungsmittel auf etwas Dokumentarisches einzulassen. Doch "Ultraorthodox - Der Kampf des Rabbi Akiva" ist wegen seiner bemerkenswerten Geschichte dennoch sehenswert.

infobox: "Ultraorthodox - Der Kampf des Rabbi Akiva", Dokumentation, Regie und Buch: Emanuel Rotstein, Leon Spanier, Kamera: Dirk Heuer, Alexander Vexler, Produktion: Bavaria Fiction (3sat/ZDF, 6.3.24, 21.45-22.45 Uhr)



Zuerst veröffentlicht 12.03.2024 11:50 Letzte Änderung: 13.03.2024 11:30 (Korr. erl.

Christian Bartels

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), K3Sat, Rotstein, Spanier, Bartels, Dokumentation, NEU

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