Tür zur Poesie - epd medien

08.05.2024 08:59

Im SWR-Hörspiel "Doppeltreppe zum Wald" diskutieren neun Schwarze Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, die moralischen Unklarheiten ihrer unterschiedlichen Lebensentwürfe in einem "Safer Space". Autor Lamin Leroy Gibba stellt sein Talent für radikal pointierte Dialoge unter Beweis, lobt Cosima Lutz.

Lamin Leroy Gibba (l.) und  Sarah Claire Wray

epd Sie treffen sich in einem Garten, Hummeln summen, Vöglein zwitschern, Kuchengabeln klickern leise auf Tellern. Es klingt echt. Und doch wirkt, was im Folgenden gesprochen wird, wie in milchiges Kunstlicht getaucht, wie von Geistern ausgesendet, die nur noch in Social-Media-Kommentarform sprechen können: "Ich liebe euch so sehr!" - "Danke für den Raum!" - "Danke fürs Teilen!" Aber zunächst einmal: "Ist der Kuchen glutenfrei? Keine Sorge, ich bin nicht gluten intolerant, aber bin mir gerne bewusst, was ich in meinen Körper stecke. Ssssorry!!!"

Es ist der Auftakt einer wahrlich prachtvollen Symphonie der Ich-Bekenntnisse, -Befindlichkeiten und -Abgrenzungen. Zu dieser haben sich hier neun Schwarze Menschen versammelt, die in Deutschland aufgewachsen sind. Das Ziel umschreibt Gastgeberin Susanne (Dela Dabulamanzi) mit der "Heilung" kollektiver postkolonialer Traumata. Die gibt der 1994 geborene Autor und Schauspieler Lamin Leroy Gibba weder der Lächerlichkeit preis noch verhandelt er das Thema mit leitartikelndem Ernst. Er macht etwas anderes: grandiose, schamlose, verdichtete Kunst.

Sprachtheater der Abgrenzungen

Halb Party, halb Selbsthilfegruppentreffen, bleibt die Realität des Ortes uneindeutig, doch er trägt ein Label, denn Labels sind wichtig, eigentlich alles. Ein "Safer Space" sei das hier, so jedenfalls lautet die Abmachung. Humor gibt es untereinander nicht, schon weil keiner der Gäste merkt, wie lustig es ist, wenn Aussagen nur zum Stichwort anderer Selbstkundgaben werden. Wie dieser schöne Wortwechsel zeigt: "Hochbegabtsein ist nicht einfach, besonders als Kind." - "Wer hat das gesagt?" - "Was?" - "Dass du hochbegabt bist." - "Ich wurde damals getestet." - "Ich liebe Tests! Ich glaub' nämlich seit längerem, dass ich hochbegabt bin."

Anders als so manch andere, aufklärerisch gemeinte Hörspiele über "Identität, Rassismus, Empowerment und Sexualität", wie es auch im Infotext zu "Doppeltreppe zum Wald" heißt, begnügt sich dieses keineswegs mit der schlichten Zweiteilung von "Wir hier im Garten" und "Ihr Leute da draußen". Im Gegenteil: Hier wird das Sprachtheater der Abgrenzungen innerhalb der "Community" selbst zum Ereignis. Die Grenzen verlaufen dabei kreuz und quer und mitten durch die beschworene Gemeinschaft und durch die einzelnen Personen hindurch. Ohne die Spezifität der jeweils unterschiedlichen und doch auch ähnlichen Betroffenheiten Schwarzer Menschen herunterzuspielen, spiegelt das beim Heidelberger Stückemarkt 2023 mit dem "SWR Hörspielpreis" ausgezeichnete Werk grundsätzliche Kommunikations- und Wahrnehmungspathologien unserer Zeit. Anders gesagt: "Ich habe immer das Gefühl, etwas zu repräsentieren, will aber einfach nur wer sein."

Stolz und Verletzlichkeit

Wie auf jeder Party gibt es den Blender, für den ein Satz nur dann vollständig ist, wenn er eine Aussage über die eigene Grandiosität enthält. Lennard (Simon Olubowale) schwärmt außer von seinem "Bestsellerroman" auch von seinen selbstgedrehten Pornos - "ein total unterschätztes Medium" -, diese seien "sozusagen mein fünftes Standbein". Der Monster gebärende Kapitalismus fließt unhinterfragt durch Lennards Adern, wobei: Ihm gehe es dabei nicht ums Geld, für ihn sei das Teil seiner "künstlerischen practice".

Die Aussagen der Neun changieren zwischen Stolz und Verletzlichkeit, Erhabenheit und latent suizidalem Wahnsinn. Das hat einen unterhaltsamen Effekt, weil es immer komisch ist, wenn Menschen geflissentlich aneinander vorbeireden und von ihrem Lieblingsthema - "Ich" - nicht abrücken können. Doch kommen dabei immer wieder Risse zum Vorschein, durch die dahinterliegendes Leid greifbar wird. Auch für Menschen der weißen, heterosexuellen Cis-Mehrheitsgesellschaft, die sich natürlich fragen darf, ob ihr Mitfühlen wiederum kolonialistisch vergiftet ist.

Sehnsucht nach Selbstengrenzung

Sein Talent für radikal pointierte Dialoge, das Lamin Leroy Gibba auch in der für die ARD-Mediathek produzierten TV-Serie "Schwarze Früchte" beweist, endet nicht beim Gag, sondern öffnet ganz leise und unprätentiös eine Tür zur Poesie. Die manchmal wie zufällig aufgeschnappt wirkenden Einwürfe und Assoziationen der Figuren verbinden sich jenseits der satirischen Ebene zu einem motivischen Netz, das seit der Romantik als ambivalenter Bestandteil der kulturellen deutschen DNA wohlbekannt ist: eine Sehnsucht nach Selbstentgrenzung und All-Verbundenheit. Einmal flüstert die melancholische junge Maïmouna (Dena Abay), die Acht sei ihre Lieblingszahl und sie würde diese gerne mal "umlegen" - die liegende Acht, Symbol der Unendlichkeit. Oder bloß der unendlichen Leier?

Schließlich transzendiert Gibba das närrisch-melancholische Treiben durch eine finale Staffelung des Spiegelmotivs: Lässt sich Narzissmus so überwinden? Immerhin: Wenn zwei Spiegel einander gegenüberstehen, entsteht die Illusion von Unendlichkeit. So wird dieser scheinbar paradiesische Garten zum Limbus, vielleicht sogar zur Vorhölle, in der jeder und jede zur ständigen Selbstkundgabe verflucht ist, ohne Aussicht auf Erlösung - oder war da irgendwo eine Treppe?

infobox: "Doppeltreppe zum Wald", Hörspiel, Regie: Sarah Claire Wray, Buch: Lamin Leroy Gibba, (SWR, 27.4.24, 23.03-00.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 08.05.2024 10:59 Letzte Änderung: 08.05.2024 11:29

Cosima Lutz

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Radio), Lutz, KSWR, Hörspiel, Gibba, NEU

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