Auf taube Ohren - epd medien

16.05.2024 09:58

Frank Seibert untersucht in zwei "ARD Wissen"-Dokumentationen das Scheitern des deutschen Bildungssystems. Unsere Kritikerin Ulrike Steglich würde Eltern am liebsten zur Flucht raten.

Der Journalist Frank Seibert nimmt das deutsche Schulsystem unter die Lupe

epd Die Ergebnisse der letzten PISA-Studie waren erneut eine schallende Ohrfeige für das deutsche Bildungssystem: Im Lesen verfehlte jeder Vierte der getesteten 15-Jährigen die Mindestanforderungen, in Mathematik sogar fast jeder Dritte. In Sachen Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit landet Deutschland auf Platz 34 (von 39), denn hier sind erwiesenermaßen noch immer Herkunft, Einkommen und Bildungsgrad der Eltern entscheidend für die Zukunftschancen ihrer Kinder - nicht deren Talente, Begabungen oder Potenziale.

Ein Grund für das schlechte Abschneiden könnte auch darin liegen, dass inzwischen mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler unter Stress und Versagensängsten in der Schule leidet - Faktoren, die nicht eben lernfördernd wirken. Die Zeit der Pandemie hat all das nur verschärft, nicht aber verursacht, die Gründe für das Versagen des deutschen Bildungssystems sind vielfältig und liegen viel tiefer. Dass es wesentlich besser geht, steht außer Frage - das beweisen schon seit Jahrzehnten die skandinavischen Staaten, die regelmäßig zu den Top Ten der PISA-Studie gehören. Aber geht es auch hierzulande anders, also angstfrei und ohne Leistungsdruck?

Lernen ohne Stundenplan

Dieser Frage geht Journalist Frank Seibert in der ersten seiner beiden Presenter-Reportagen nach und stößt auf die Universitätsschule Dresden. Dabei handelt es sich nicht um eine Eliteschule, sondern um einen pädagogischen Modellversuch, gegründet von Anke Langner, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaften an der Technischen Universität Dresden. Hier lernen Kinder ohne festen Stundenplan und feste Klassen, ohne Noten, Klassenarbeiten und Frontalunterricht - dafür nach eigenem "Logbuch" und eigenem Tempo, mit eigenen Laptops, Zielvereinbarungsgesprächen, viel individueller Förderung und "Gelingensnachweisen".

Hier gibt es keine Separation nach der 4. bzw. 6. Klasse, stattdessen lernen die Kinder von der 1. Klasse bis zum Abschluss gemeinsam. Die Kinder werden repräsentativ nach dem Bevölkerungsquerschnitt ausgewählt, ihre Eltern haben "unterschiedliche Hintergründe". Wobei die Schülerschaft zumindest nach Augenschein doch überwiegend biodeutsch zu sein scheint, wie die zwölfjährige Leefke, die Seibert in der Schule begleitet, oder der zehnjährige Justus, der erst hier seine Schulangst verlor.

Dieses hochinteressante und beispielgebende Projekt musste gegen die Widerstände der sächsischen CDU durchgeboxt werden, was schon Bände spricht. Denn es mangelt ja keineswegs an den richtigen wissenschaftlichen Ansätzen, wie auch die beachtliche Zahl der von Frank Seibert interviewten Expertinnen und Experten zeigt. Auch gibt es bei allem Personal- und Nachwuchsmangel noch immer sehr viele engagierte Pädagoginnen und Pädagogen.

Moderne Wissensaneignung

Das zeigt auch Seiberts zweite Reportage, in der es um die Chancengleichheit an Schulen geht. Als Best-Practice-Beispiel dient hier unter anderem das Gymnasium Essen Nord-Ost, das von Kindern und Jugendlichen aus mehr als 60 verschiedenen Nationen besucht wird, 90 Prozent von ihnen sprechen zu Hause nicht Deutsch. Hier gehört Achtsamkeitstraining zum Stundenplan, zur Sprachförderung gibt es zweijährige Vorbereitungsklassen als Deutsch-Intensivkurs, für die Ganztagsschule ist das Jugendzentrum auf dem Schulhof von immenser Bedeutung.

Zu Wort kommen in beiden Reportagen auch Pädagogikprofessorinnen, Lehrer und Influencerinnen, die viel Wichtiges zu sagen haben, das man nur unterschreiben kann: Dass "Bulimielernen" nichts bringt, sondern bei moderner Wissensaneignung kreatives, kritisches Denken gefragt ist, außerdem Kooperation und Kommunikation. Dass das deutsche Auslesesystem in Leistungsschwache und Elite von vorgestern ist und dass Bildungssysteme, in denen Kinder möglichst lange gemeinsam lernen, nachweislich die erfolgreicheren sind. Allerdings unterschlägt auch Frank Seibert an dieser Stelle, dass das sehr wohl schon mal in einem Teil Deutschlands lange erfolgreich praktiziert wurde, nämlich in der DDR, die in diesem Punkt durchaus dem skandinavischen Modell ähnelte.

Das Problem ist jedoch grundsätzlicherer Natur, der Lehrer und Influencer Bob Blume bringt es auf den Punkt: Das deutsche Schulsystem sei irgendwo in den 50ern stecken geblieben, und eine Ursache dafür sieht er in der politischen "Verantwortungsdiffusion" zwischen Bund, Ländern und Kultusministerkonferenz. Bildung ist also ein parteipolitischer Spielball, wird von Bundesland zu Bundesland auf andere Art gestaltet und weit und breit ist keine grundlegende Reform in Sicht.

Politiker wollen sich nicht äußern

Es wundert also nicht, dass Seibert keinen einzigen Politiker gefunden hat, der sich vor der Kamera zum Thema "Stress und Druck in der Schule" äußern mochte. Immerhin fand er zum Thema des langen gemeinsamen Lernens eine Vertreterin des Deutschen Philologenverbands, die zu einem Kommentar bereit war: Susanne Lin-Klitzing, die prompt erwiderte, man brauche eben ein "plurales Schulsystem" statt "einer Schule für alle", das sei eben "so eine traditionelle Geschichte", und es sei "gut, wenn besonders befähigte Schüler auf dem Gymnasium gemeinsam lernen".

Auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) bemüht die Tradition: Deutschland habe eben "ein traditionell anderes Bildungssystem mit traditionell drei Ebenen" und wir täten "uns sehr schwer mit Veränderungen". Immerhin gebe es ja jetzt das Startchancenprogramm mit einer Milliarde Euro für 4.000 Schulen.

Wenn in zwei Sätzen dreimal das Wort "traditionell" fällt, weiß man eigentlich, was die Stunde geschlagen hat und dass auch Hunderte solcher engagierten Reportagen auf taube Ohren stoßen werden. Wer selbst mal Kinder durch dieses Bildungssystem begleitet hat, weiß, dass sich viele Essentials dieser Reportage schon wie Asche im Mund anfühlen. Eigentlich kann man Eltern nur noch zur Flucht raten. Vielleicht nach Kanada.

infobox: "ARD Wissen: Schule ohne Druck?" und "ARD Wissen: Abitur für alle?", zweiteilige Dokumentation mit Frank Seibert, Regie und Buch: Katrin Back, Produktion: Bilderfest (ARD/SWR, Teil 1: 29.4.24, 23.00-23.45 Uhr, beide Teile seit 26.4.24 in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 16.05.2024 11:58

Ulrike Steglich

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Dokumentation KARD, Seibert, Steglich

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