Gesteigerte Verblüffungsmomente - epd medien

23.05.2024 09:47

In ihrem SWR-Hörspiel "Trio Null Ouvert" zieht die verstorbene Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff illusionslos die Bilanz von Biografien und Zeitläuften, meint Eva-Maria Lenz.

epd Sibylle Lewitscharoffs beste Szenarien faszinieren mit verblüffenden Wendungen, und dies nach quasi-dokumentarischem Beginn. So bestimmen in ihrem kühnen Hörspiel "Das Pfingstwunder" (HR 2014) übliche Konkurrenzkämpfe und Kontroversen einen internationalen Dante-Kongress, bis die Forscher auf dem Weg von Dantes Inferno zum "Paradiso" tatsächlich den Text auf sich wirken lassen und jäh wechselseitig einander verstehen, ja lieben. Ein Kongress gerät in Ekstase und fliegt auf und davon, zum offenen Fenster hinaus in den Himmel über Rom. Surreal oder utopisch? Vielleicht beides. Die Autorin setzt Frage- und Ausrufezeichen.

Auch "Trio Null Ouvert" beginnt zunächst wie eine Dokumentation. Dieses leider letzte Hörspiel der vor einem Jahr verstorbenen Autorin kennzeichnet eingangs mit wenigen authentischen Musikfetzen und verknappten Radionachrichten, die der Regisseur Ulrich Lampen klug auswählt und montiert, politische Spannungen zwischen Ost und West in den späten 60er und frühen 70er Jahren. In dieser Atmosphäre zwischen "Taten vollbringen für ein sozialistisches Vaterland" und "Stimmen der Freiheit" gedieh da die Westberliner Studentenszene, die Sibylle Lewitscharoff aus eigener Erfahrung kennt. Souverän distanziert skizziert hier Matthias Leja als Erzähler die Lebensformen der geradezu obligatorischen Wohngemeinschaften von damals "vor langer, langer Zeit, die denen, die heute jung sind, vorsintflutlich vorkommen muss".

Ungeheuerliche Vorkommnisse

Kiffen und Diskussionen großer Themen wie Kommunismus oder Emanzipation wechselten da in der Gruppe ab mit konkreten Organisationsfragen wie derjenigen, "wer wann wo was einzukaufen hatte". Diese sachlich kulturanthropologische Sicht auf den Alltag schneiden hier jäh Hinweise auf die ungeheuerlichen Vorkommnisse ab, mit denen dieses Hörspiel zentral schockiert: "In einer speziellen WG nahm eine nicht ganz alltägliche Geschichte ihren Lauf." So weckt der Erzähler Erwartungen, die dann bei einem Kaffeeklatsch mehr als 40 Jahre später in Rückblenden eingelöst werden.

Da treffen sich zwei einstige WG-Genossinnen im Alter wieder. Die längst erneut den Luxus ihrer Herkunft kultivierende Gastgeberin Eva (Barbara Nüsse) und ihre frühere Freundin Sylvia (Hedi Kriegeskotte), deren Kunstambitionen gescheitert sind, gehen gesprächsweise beschönigend ihren eigenen Lebensläufen nach. Hingegen stellen sie eine Gefährtin der zunächst abwesenden dritten Wohngenossin an den Pranger, eine seismografische Hochstaplerin, deren Karriere und Enttarnung auch Zeitläufte und Zeitgeist kennzeichnen.

Diese Lea, Tochter von Nazieltern in Halberstadt, hieß nach ihrer Geburt Irmgard. Politisch bewusst hatte sie in den 70er Jahren die Chuzpe, den Namenswechsel zu Lea zu vollziehen und sich ohne Ehrfurcht vor den wirklichen Naziopfern als Jüdin auszugeben. Zudem verdrängte und vertuschte sie ihren Beruf als Krankenschwester und trat seitdem als Psychoanalytikerin auf. Unter Vortäuschung dieser damals besonders angesehenen Rolle beanspruchte und errang sie Deutungshoheit.

Krasse Lieblosigkeit rundum

Der Skandal flog erst nach der Wende dank neuer DDR-Kontakten auf. Nun schüttelt sich Sylvia vor Abscheu bei Evas Enthüllungen. Ausgerechnet als die beiden sich über Leas Schandtaten ereifern, erscheint als Überraschungsgast zum Kaffee noch Gerhild (Jutta Hoffmann), die einst für Lea schwärmte und zu ihr zog, höchstwahrscheinlich ohne die Hintergründe zu kennen. Trotzdem neigen die beiden Freundinnen dazu, jetzt auch mit Gerhild abzurechnen. Besonders die zu kurz gekommene Sylvia steigert sich in bizarre und makabere Aggressionen. Gerhild geht zum Gegenangriff auf frühere Kumpel Sylvias und Evas über, ehe sie das Feld räumt.

Wieder arbeitet Lewitscharoff mit gesteigerten Verblüffungsmomenten. Aber diesmal schildert sie, fern von "Das Pfingstwunder", ganz und gar nicht Versöhnung, sondern krasse Lieblosigkeit rundum. Ihr letztes Hörspiel zieht illusionslos die Bilanz von Biografien und Zeitläuften. Alle Beteiligten haben allerlei erreicht, nicht aber die neuen Ufer, von denen sie einst träumten.

infobox: "Trio Null Ouvert". Hörspiel von Sibylle Lewitscharoff, Regie: Ulrich Lampen (SWR Kultur, 11.5.24, 23.00-23.50 Uhr und in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 23.05.2024 11:47

Eva-Maria Lenz

Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Hörspiel, KSWR, Lenz, Lewitscharoff

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