Zu gut für diese Welt - epd medien

13.06.2024 10:55

Ein in die Jahre gekommener Waschsalon in Offenbach steht im Mittelpunkt der liebevoll erzählten Serie "Schleudergang" in der ARD-Mediathek. Dort treffen sich die skurrilsten Charaktere.

Dirk Martens spielt in "Schleudergang" den Waschsalon-Besitzer Erik

epd Eriks Waschsalon in Offenbach ist sichtlich in die Jahre gekommen und atmet den Charme der 70er und 80er Jahre der alten Bundesrepublik. Er existiert schon seit 1957 und Erik, der den Laden von seiner Tante übernommen hat, ist mit ihm in Würde gealtert. Im Salon läuft oft Schlagermusik von einer sehr alten Jukebox und die Waschmaschinen, die er selbstverständlich selbst wartet und repariert, sind liebevoll nach Schlager-Interpreten benannt: Mireille, Gitte, Guido ...

Die Rolle des Erik ist Dirk Martens auf den Leib geschrieben oder besser gesagt: Die Serie gäbe es ohne ihn überhaupt nicht. Denn der Schauspieler betreibt selbst seit Jahren einen Waschsalon in Berlin und einen weiteren in Tokio. Was man in der Serie sieht, ist vom Geschehen in der realen Welt inspiriert.

Skurrile Typen

Eriks Waschsalon ist ein Mikrokosmos mit Stammgästen und Überraschungsbesuchern, Gott und die Welt werden hier in trauten Gesprächen zwischen Schleudern und Trocknen verhandelt: Wohnungssuche oder ein eingelaufenes Bon-Jovi-Shirt, Einsamkeit, Fußball, Schulden, Bakterien oder die Internet-Welt. Man muss Erik unweigerlich ins Herz schließen, denn er ist das, was man "zu gut für diese Welt" nennt: ein stiller, bescheidener Mann mit großem Herzen, der immer für die Nachbarn da ist, ihren Sorgen und Kümmernissen zuhört, Verständnis aufbringt und zu helfen versucht, der Streithähne aussöhnen möchte und auch noch sein letztes Hemd teilen würde.

In den sechs 30 Minuten kurzen kammerspielartigen Episoden tauchen skurrile Typen und Charaktere auf: die anspruchsvolle, stets nörgelnde Studentin, eine alternde Prostituierte und einer ihrer Freier mit Wäschefetisch, ein Rapper, eine besorgte Mutter, ein einsamer Witwer, ein Fan der Offenbacher Kickers, der Schreibwarenhändler von nebenan oder die obdachlose Trude.

Nicht immer ist alles so, wie es auf den ersten Blick scheint: Der Rapper, der im Hinterzimmer ein Video produzieren will, entpuppt sich als Student, der in gepflegtem Hochdeutsch mit dem Fetisch-Freier in eine philosophische Fachsimpelei über Kant gerät. Den Rapper mimt er nur, damit seine Hood nicht denkt, er wäre abgehoben. Und der vermeintliche Psychiater vom Krankenhaus um die Ecke, der behauptet, seine tote Schwester lebe in einem kleinen braunen Fläschchen, ist in Wirklichkeit ein Patient, der von Pflegern in die Klinik zurückgebracht wird. Aber was ist hier überhaupt noch Wirklichkeit und was gehört zu Eriks Fiebertraum?

Wenig Kundschaft

Anderes wiederum ist sehr realistisch: wenn die Prostituierte nüchtern hochrechnet, dass sie im Lauf ihres Berufslebens mit 37.000 Männern geschlafen haben muss, wenn der verwitwete Walter von seiner Einsamkeit erzählt oder die obdachlose Trude von ihrer Angst, beklaut zu werden.

Auch Eriks Sorgen sind höchst realistisch: denn anders als Dirk Martens' echter Berliner Betrieb mit dem schönen Namen "Freddy leck sein Waschsalon" genießt Eriks Offenbacher Waschstube keinen Kultstatus, sondern kämpft ums Überleben: Erik hat Schulden, und es gibt kaum noch Kundschaft, weil inzwischen nahezu jeder eine Waschmaschine zu Hause hat. Oft reichen die Einkünfte kaum, um die Miete zu decken. Daher will Erik den Waschsalon verkaufen, doch Trude macht ihm einen Strich durch die Rechnung und vergrault die einzige potenzielle Käuferin. Für einen Bankraub, wie ihn Schreibwaren-Schröder vorschlägt, ist Erik wiederum zu skrupulös.

In der Zeitschleife

Die Mischung aus leiser Skurrilität, Absurdität und Melancholie macht den Charme dieser Mini-Serie aus. Hier gibt es keine lauten Schenkelklopfer und keine krachlederne Comedy, die Tonlage ist eher Moll. Das gilt für die wechselnden Nebenfiguren, gespielt von Ronald Kukulies, Gustav-Peter Wöhler, Barbara Philipp, Lea Thake, Anna Kubin und vielen anderen, ebenso wie für den mit Liebe ausgestatteten Salon (Károly Pákodzy). Wie Wöhler sich müht, gleich am Anfang der ersten Folge eine heruntergefallene Socke vom Boden aufzuheben, ist ein Kabinettstückchen sondergleichen.

Den Kontrast zur Nostalgie des Salons, der in einer Zeitschleife hängengeblieben zu sein scheint, bildet der Influencer Toy7 (Marc Boutter), an den Erik untervermietet hat, um so wenigstens etwas Geld zu erwirtschaften. Er ist es auch, der am Ende der Staffel für eine überraschende Volte sorgt: Als der bisherige Eigentümer dem überrumpelten Erik die fristlose Kündigung des Ladens in die Hand drückt, entpuppt sich Toy7 als Käufer des gesamten Mietshauses.

So kann das nicht enden. Schon weil man Erik wünscht, dass er weiter in seinem Waschsalon Mireille Mathieu lauschen darf und sein großes Herz für die Kundschaft öffnet, muss eine zweite Staffel folgen. Und natürlich, weil man von diesen wunderbaren Miniatur-Dramen nicht genug kriegen kann.

infobox: "Schleudergang", sechsteilige Miniserie, Regie und Buch: Matthias X. Oberg, Kamera: Ralf M. Mendle, Produktion: Green Production (ARD-Mediathek/HR, seit 31.5.24)



Zuerst veröffentlicht 13.06.2024 12:55

Ulrike Steglich

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Streaming, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KHR, KARD, ARD-Mediathek, Oberg, Steglich

zur Startseite von epd medien