"Da fehlt der Humor" - epd medien

13.06.2024 10:57

Der Autor Christian Jeltsch erzählt in der ARD-Serie "Wo wir sind, ist oben" davon, wie Politik gemacht wird und wie sie "tickt". Im Mittelpunkt der Serie stehen Lobbyisten, die Politiker und Verbände bei Gesetzesvorhaben und Kampagnen beraten. Die Figuren seien "der Wirklichkeit entnommen", sagt Jeltsch, der jahrelang für die Serie recherchiert hat, Geschehnisse und Charaktere würden aber überhöht. Christian Jeltsch (66) ist Autor zahlreicher Krimis und Serien. Unter anderem schrieb er Bücher für die "Tatort"-Reihe der ARD, "Kommissarin Lucas" (ZDF) und "Kreutzer kommt" (ProSieben). Diemut Roether sprach mit ihm über Politik in Zeiten von Social Media, die Berliner Republik und den Umgang der Sender mit brisanten Themen.

Ein epd-Interview mit Autor Christian Jeltsch

Drehbuchautor Christian Jeltsch

In Ihrer Serie "Wo wir sind, ist oben" geht es um Lobbyisten in der Politik in Berlin und es geht natürlich auch darum, wie Politik funktioniert. Wie ist die Serie entstanden?

Christian Jeltsch: Neben mir gab es noch zwei Koautoren, Sebastian Bleyl und Anneke Jannsen. Die Idee kam aus einem Moment heraus. Ich hatte die Bücher zu ein paar "Tatorten" geschrieben, die politisch waren. Da hatte ich sehr viel in der Politik recherchiert und bin dabei immer wieder Menschen begegnet, die als Lobbyisten oder Spindoktoren arbeiten. Ich fand diese Welt hochinteressant. Natürlich habe ich auch "Borgen" geschaut ...

Eine dänische Serie, in der es um die Mechanismen des Politikbetriebs geht …

... in der die Politik grandios dargestellt wurde. Ich fand diese Welt so schnelllebig und so besonders, dass ich dachte, wenn man davon erzählt, müsste man es unterhaltsam tun, damit die Zuschauer nicht denken: Oh Gott, schon wieder was über Politik? Da schalte ich lieber ab. Ich wollte etwas machen, das sich aus der Realität bedient, aber einen Meter über der Realität schwebt. Ich wollte hinter die Kulissen schauen lassen, wo Politik entschieden wird und wie es zu bestimmten Entscheidungen kommt.

Wie lange haben Sie für "Wo wir sind ist oben" recherchiert?

Die Idee hatte ich vor etwa acht Jahren, es hat dann sieben Jahre gedauert, bis gedreht wurde. Die Recherchen liefen sicherlich über zwei Jahre. Ich hatte das Glück, mit Susanne Porsche von der Isarstraßen Film eine Produzentin zu haben, die viele Türen öffnen konnte. Ich habe in Berlin, in Wien, in Brüssel recherchiert und bin tollen und engagierten, aber auch zynischen Leuten begegnet.

Es wird sehr genau geschaut, in welche Talkshow setze ich jemanden, wen kann ich wo unterbringen.

Haben diese Recherchen Ihren Blick auf die Politik verändert?

Es war sehr spannend zu erkennen, wie die Strippen in der Politik tatsächlich gezogen werden, auf welche Kleinigkeiten es ankommt, wenn jemand eine bestimmte Agenda hat. Da gibt es Leute, die sagen: Warte ab, dann und dann ist der Kanzler oder die Kanzlerin nicht im Lande, dann haben wir für drei Tage die Themenhoheit. Es wird überlegt: Präsentieren wir das in der "Bild"-Zeitung, dann ist es eine heftige Schlagzeile mit Ausrufezeichen. Geht man in seriösere Zeitungen? Wo setzt man das Thema? Es gibt Menschen, die sagen, du solltest als Politiker oder Politikerin über dein Outfit nachdenken. Ist diese Frisur gut oder diese Brille? Solltest du vielleicht ein bisschen abnehmen? Da werden Überlegungen und Programme entwickelt für Menschen, die sehr ehrgeizig sind und an die Macht kommen wollen. Und es wird sehr genau geschaut, in welche Talkshow setze ich jemanden, wen kann ich wo unterbringen. Wenn man das alles weiß, schaut man ganz anders auf die Gäste der Talkshows und staunt nicht mehr darüber, warum Herr Spahn gerade in so vielen Talkshows sitzt.

Hat der CDU-Politiker Jens Spahn einen besonders guten Berater, der ihn in den Talkshows unterbringt?

Man merkt, dass er in Talkshows sitzt, die nichts mehr mit Gesundheitspolitik zu tun haben, sondern mit Außenpolitik, mit Sicherheitspolitik, mit Flüchtlingspolitik, Finanzpolitik. Man zeigt der Bevölkerung, Herr Spahn hat ein wirklich großes Wissen und viele Kompetenzen. Den kann man sich in vielen führenden Rollen vorstellen.

Ich bin bei meinen Recherchen vielen Menschen begegnet, die wirklich engagiert sind. Ich habe das Gefühl, wir unterschätzen das, auch in Brüssel, wie viele engagierte Leute da sind.

Das klingt so, als ginge es in der Politik gar nicht so sehr um Themen oder darum, eine gute Politik zu machen, sondern vielmehr um Menschen und deren Agenda. In Ihrer Serie geht es immer wieder um sogenannte Narrative, also die Erzählungen über Politik. Geht es seriösen Politikern nicht um die Sache?

Dass es Politikern um die Sache geht, darf man wirklich nicht ausschließen. Aber Narrativ oder "Framing" sind tatsächlich Worte, die im politischen Alltag ständig benutzt werden. Man muss emotionalisieren. Auch die Leute, die gute Politik machen wollen, wissen: Ich erreiche die Bevölkerung nur, ich bekomme nur Aufmerksamkeit, wenn ich solche Wege gehe. Das ist eine Reaktion auf soziale Medien. Eine Nachricht löst die andere ab, und wenn ich mit der Absicht, gute Politik zu machen, präsent bleiben will und nicht von der nächsten Promi-Geschichte abgelöst werden möchte, muss ich möglichst ein gutes Narrativ haben und emotional sein. Ich bin bei meinen Recherchen vielen Menschen begegnet, die wirklich engagiert sind. Ich habe das Gefühl, wir unterschätzen das, auch in Brüssel, wie viele engagierte Leute da sind. Das Problem ist, dass das Europäische Parlament nicht entscheiden kann, sondern die Themen gehen zurück an die nationalen Parlamente und da werden sie verwässert. Da sind die Leute, die aus den guten Ideen halbgare oder schlimme Sachen machen. Meiner Meinung nach müssten wir dem Europäischen Parlament viel mehr Entscheidungsmöglichkeiten geben.

Braucht das Europäische Parlament ein besseres Narrativ?

Ja, und es bräuchte auch die Unterstützung der einzelnen Länder. Da müsste man Kompetenzen abgeben.

Man dürfte wohl vor allem die Schuldigen nicht immer in Europa suchen ...

Da sind vor allem die Medien gefragt. Ich finde dieses Europa-Bashing absolut falsch. Es gab zum Beispiel mal die Idee des "Europa der Regionen". Eine großartige Idee, aber das ist wieder völlig in der Versenkung verschwunden. Wenn man das wiederbeleben würde, würden die Bürger merken, dass sie sich auf lokaler Ebene austauschen können.

Es ist eigentlich völlig simpel, aber es wird gesagt, es ist zu kompliziert. Und keiner fragt mehr nach, stellt dieses Narrativ in Frage.

Ich frage mich, ob wir durch diese ständige Emotionalisierung nicht in eine Spirale hineingeraten, wo alles immer emotionaler wird. Am Ende kommt es auf Sachargumente nicht mehr an. Es werden Lügen verbreitet und diejenigen, die sie glauben wollen, beten sie nach. Und in der Berichterstattung wird das so gespiegelt.

Das finde ich ganz schrecklich. Mich erinnert das an "Animal Farm" von George Orwell. Da gibt es diesen Spruch der Schweine, die die Macht übernommen haben: "Four legs good, two legs bad." Wir bewegen uns dahin, weil es vielen Menschen nur noch auf die simplen Wahrheiten ankommt, anstatt zu gucken, wo sind die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß? Das würde aber bedeuten, dass ich mich wirklich sehr bewusst mit Politik auseinandersetze. Oft wird gesagt, es ist alles so wahnsinnig kompliziert geworden. Ich bezweifle das, denn wenn ich mich mit Politik beschäftige, weiß ich sehr schnell, wo Leute lügen.

Also: keine Angst vor Komplexität?

Genau. Das erste Mal ist mir das 2008 bei der Bankenkrise aufgefallen, da hieß es auch, das ist zu kompliziert und die Banken sind too big to fail, deshalb müssen wir so handeln, wie wir handeln. Es gibt einen tollen Hollywoodfilm, "The Big Short" mit Christian Bale und Brad Pitt. Der erklärt die ganze Banken-Krise mit den Lehman Brothers, er bricht das clever runter, weil es einfach nur um Gier geht, um Monopoly oder Roulette-Spiel der Banker. Es ist eigentlich völlig simpel, aber es wird gesagt, es ist zu kompliziert. Und keiner fragt mehr nach, stellt dieses Narrativ in Frage.

Verantwortung ist für mich das Thema unserer Zeit. Wir geben so viel Verantwortung ab für unser Leben. Papa Staat soll es richten.

Wollen Sie mit Ihrer Serie dazu anregen, sich mehr mit vermeintlich komplizierten Themen auseinanderzusetzen? Ich hatte den Eindruck, dass hier vor allem Zyniker im Mittelpunkt stehen, also Leute, denen es nicht wirklich um die Sache oder ein Thema geht, sondern darum zu gewinnen.

Zynisch würde ich nicht sagen, das ist was Spielerisches. Ich bin einigen Leuten begegnet, die sehr spielerisch unterwegs waren. Trotzdem ist die Serie auch ein Plädoyer für die Lobbyisten. Ich glaube tatsächlich, dass sie wichtig sind, weil sie Informationen haben. Wir haben ja nicht nur "böse" Lobbyisten wie die der Pharma- und Waffenindustrie, sondern es gibt auch Lobbyismus für das Kinderhilfswerk oder die Gewerkschaften. Da ist viel Wissen, das Politiker nicht haben können. Das Problem aber entsteht, wenn die Informationen der Lobbyisten von der Politik eins zu eins übernommen werden oder wenn Politiker aus Parteiräson mitstimmen müssen oder wollen. Meine Forderung an die Politiker ist: Ich möchte, dass da eigenständige, selbst denkende Menschen unterwegs sind, nicht Leute, die aus Machtgründen mit der Partei stimmen müssen. Der Abgeordnete ist seinem Gewissen verpflichtet, nicht der Partei, aber natürlich wollen Parteien ihre Macht behalten.

Ist das ein Appell an die Politiker, mehr Verantwortung zu übernehmen?

Ja. Verantwortung ist für mich das Thema unserer Zeit. Wir geben so viel Verantwortung ab für unser Leben. Papa Staat soll es richten. Und dann macht Papa Staat alles falsch, so dass wir schön schimpfen können. Es gab ja mal von Kennedy diesen Ausspruch: Frag nicht, was dein Land für dich machen kann, sondern was du für dein Land machen kannst. Das hat sich total umgedreht: Jeder denkt, was kann das Land für mich machen und nicht: Was kann ich tun?

Sie haben unzählige Bücher zu Filmen und Serien geschrieben, auch für einige Krimireihen: "Polizeiruf 110", "Tatort", "Kommissarin Lucas". Haben Sie zu einer dieser Kommissarfiguren eine besondere Beziehung?

Hauptsächlich zu denen, die ich selbst kreiert habe. Das fing an mit Edgar Selge als Kommissar Tauber im "Polizeiruf 110" aus München, dann Ulrich Tukur als Murot im "Tatort" aus Hessen, oder auch Kommissar Kreutzer für ProSieben. Und in Bremen habe ich die Figur der BKA-Ermittlerin Linda Selb hinzugefügt. Diese Figuren liegen mir besonders am Herzen. Auf der anderen Seite mochte ich Kommissarin Lucas wahnsinnig gerne, weil das eine Figur mit klarer Haltung ist. Das passt total zu Ulrike Kriener, die ich großartig finde.

Einer hat gesagt, die politische Lebenslust ist verloren gegangen, es ist so nüchtern geworden.

Kommissarin Lucas ist im vergangenen Jahr abgetreten. Sie haben das Buch zum letzten Film der Reihe geschrieben. Worauf kam es Ihnen da an?

Mir ging es darum zu betonen, dass sie eine Figur ist, die Haltung hat und die dafür in letzter Konsequenz sogar in den Knast geht. Dass man sie nicht erschießt und dass sie nicht einfach nur verabschiedet wird.

Ulrike Kriener spielt auch in Ihrer neuen Serie "Wo wir sind, ist oben" mit. Sie spielt eine Art Senior Lobbyistin, die oberste Strippenzieherin, Spindoctorin. Gab es ein Vorbild für diese Figur?

In den Figuren sind verschiedene Figuren zusammengeflossen. Ich habe Lobbyisten kennengelernt, die noch von der Bonner Republik erzählen konnten, wo das noch anders gelaufen ist. Es gab noch keine Social Media und es gab ein Agreement zwischen Presse, Politik und Lobbyisten, dass man bestimmte Dinge weiß, aber nicht veröffentlicht. Ich habe noch mit Dagobert Lindlau gesprochen, der sehr viel in der Bonner Republik unterwegs war. Ich habe auch einige getroffen, die aus Bonn nach Berlin gegangen sind und dort weiter als Lobbyisten gearbeitet haben, aber mehr von der Bonner Republik geschwärmt haben. Das fand ich sehr spannend. Einige haben gesagt, es ist so traurig geworden, es wird nicht mehr gefeiert und in den Hinterzimmern wird nicht mehr geraucht. Einer hat gesagt, die politische Lebenslust ist verloren gegangen, es ist so nüchtern geworden. Diesen Hintergrund fand ich für die Figur von Ulrike Kriener sehr passend.

Da sitzen sehr kluge Leute, die genau wissen, wie müssen wir auf was reagieren.

Wahrscheinlich stehen alle viel mehr unter Beobachtung als früher, weil wir die sozialen Medien haben und Handykameras. Man kann sich das gar nicht mehr leisten, über die Stränge zu schlagen.

Dieses ständige Beobachtetwerden lässt die Menschen so ungnädig werden. Dann werden die Versprecher gezählt bei Frau Baerbock, das finde ich so wahnsinnig klein. Das hemmt letztendlich auch Politik, groß zu erzählen, groß zu denken. Mir fehlt zum Beispiel, dass Politiker selbst eine Vision für die Zukunft entwickeln. Helmut Schmidt hat mal gesagt, wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen, aber ich finde, es braucht das.

Ist nicht auch der Spin viel schwerer beherrschbar geworden? Sagen das die Lobbyisten auch? Man kann doch viel schwerer einschätzen, wie ein bestimmter Spin wirkt.

Auf jeden Fall. Man verfolgt eine Richtung, hat aber im Kopf schon Plan B, C, wenn das schiefgeht. An dem Punkt müssen wir so reagieren und wenn das da schiefgeht, müssen wir so reagieren. Da sitzen sehr kluge Leute, die genau wissen, wie müssen wir auf was reagieren. Auch da geht die gute Absicht schnell verloren, weil irgendwas dazwischenfunkt und irgendjemand wieder irgendwas falsch interpretiert. Dann stürzen sich alle darauf und glauben, Recht zu haben. Die Lobbyisten sagen, wir müssen jetzt nicht auf zwei oder drei Ebenen, sondern auf fünf oder sechs Ebenen vorausdenken, damit wir solche Dinge einfangen können.

Geschrieben wurde die Serie für Sky. Da wurde dann aber entschieden, keine Fiction mehr zu produzieren.

Die Serie wird als "Dramedy" bezeichnet, das klingt so unentschieden: Wollten Sie ein Drama machen oder eine Comedy?

Natürlich überwiegt das Komödiantische, aber in der horizontal erzählten Geschichte ist auch ein Familiendrama.

Die Serie läuft in der ARD-Mediathek. Wurde sie von Anfang an für die Mediathek geschrieben?

Nein, geschrieben wurde sie für Sky. Da wurde dann aber entschieden, keine Fiction mehr zu produzieren. Also haben Susanne Porsche und Felix Fichtner, die Produzentin und der Produzent, einen neuen Sender gesucht und sind zum Glück bei der ARD gelandet. So kamen wir in die Mediathek. Was mich freut, weil die TV-Anstalten da erzählerisch mehr riskieren. Sie können und wollen ein jüngeres Publikum erreichen. Ich hoffe, dass das auch den jungen Autoren und Autorinnen und allgemein den jungen Kreativen genügend neue Arbeitschancen ermöglicht. Wir alten weißen Männer sind ja Richtung Ende unterwegs.

Sie haben aber wahrscheinlich auch noch einiges zu erzählen als alter weißer Mann.

Ich kann nur mein Bestes versuchen und das tue ich, weil ich glaube, es gibt so viele Geschichten zu erzählen. Wir haben zum Beispiel schon Geschichten aus der Realität für eine zweite und dritte Staffel von "Wo wir sind ist oben" in der Hinterhand.

Ich merke, dass Sender und Streamer inzwischen sehr vorsichtig mit brisanten Themen umgehen. Wir brauchen aber auch den Mut zur politischen Unkorrektheit im Erzählen.

Gibt es für die Mediathek Vorgaben, wie viele Abrufe Sie kriegen müssen?

Das weiß ich nicht. Mit meiner letzten Serie bei der ARD, "Die Saat" mit Heino Ferch, sind sie total glücklich, weil sie acht oder zehn Millionen Abrufe hatte.

Gab es bei der Arbeit an "Wo wir sind, ist oben" Einwände, gerade bei politischen Themen? Und hatten sie bei der Entwicklung der Serie und der Figuren freie Hand?

Bei dieser Serie habe ich das nicht erlebt, da hatten wir freie Hand. Aber ich merke, dass Sender und Streamer inzwischen sehr vorsichtig mit brisanten Themen umgehen. Man versucht, Themen so zu erzählen, dass sie nicht provokant werden, man tendiert eher dazu, politisch korrekt zu erzählen, auch in den Krimis. Auf der anderen Seite brauchen wir aber auch den Mut zur politischen Unkorrektheit im Erzählen. Es wäre schrecklich, wenn wir an den Punkt kommen, wo wir bestimmte Themen nicht mehr erzählen, weil das politisch brisant wäre.

Das ignoriert man sozusagen weg.

Sie haben einmal gesagt, es macht Ihnen Spaß, Grenzen auszutesten. Welche Grenzen haben Sie bei "Wo wir sind ist oben" ausgetestet oder überschritten?

Da war die Frage: Was erzählen wir von dem, was wir über die wahre Politik recherchiert haben? Wie viel an Wahrheit können wir einbringen in die Geschichten? Etwa der Ausstieg aus der Kohle 2035: Wie kam es dazu, dass ein Gutachten nicht publik wurde, das ein halbes Jahr vor der Abstimmung dem Wirtschaftsministerium vorlag, das besagte, man kann schon weit vor 2035 ohne Probleme aussteigen. Warum wurde dieses Gutachten erst publik nach der Abstimmung im Bundestag im Dezember 2020? Wie kam es dazu, dass der Auftrag für die Maut an einen bestimmten Anbieter vergeben wurde? Wir erzählen die Hintergründe, die wir recherchiert haben. Da sind wir an bestimmte Grenzen gegangen. Ich bin sehr gespannt, ob es Reaktionen geben wird. Meine Erfahrung ist bei solchen brisanten Themen: Man liegt nicht falsch, wenn nicht reagiert wird.

Keine Reaktion ist auch eine Reaktion?

Ein Lobbyist hat mir erklärt, wenn da etwas Wahres erzählt wird, werden wir das doch nicht mit einem Widerspruch befeuern. Das ignoriert man sozusagen weg. Wir haben das Buch ja schon vor einigen Jahren geschrieben und der Kollege Sebastian Bleyl, der mitgeschrieben hat, hat eine Situation kreiert, die dann von der Realität eingeholt wurde, durch Laschets Lachen im Flutgebiet. Die Idee hatte er in ähnlicher Form im Drehbuch drin.

Wenn ich immer nur im Kopf habe, wie wirke ich jetzt, kann ich nicht authentisch sein.

Führt die Tatsache, dass Politiker ständig unter Beobachtung stehen, auch dazu, dass charismatische Politiker weniger Chancen haben als früher? Am Ende setzen sich diejenigen durch, die etwas langweilig sind, aber nicht anecken.

Wenn ich mir vorstelle, heute wären Figuren wie Willy Brandt oder Franz Josef Strauß oder Herbert Wehner in der Politik tätig, die hätten ständig einen Shitstorm. Eine meiner Figuren hört sich die alten Reden von früher an - tolle Reden! Wenn diese charismatischen Politiker heute das sagen würden, was sie wirklich denken, wäre das schwierig. Und das ist ein Riesenverlust. Dadurch geht auch die Authentizität verloren. Wenn ich immer nur im Kopf habe, wie wirke ich jetzt, kann ich nicht authentisch sein. So ist dann auch das Auftreten, die Wortwahl. Und wenn einmal einer die falschen Worte wählt oder sich verspricht, stürzen sich alle darauf. Da fehlt mir der Humor, eine gewisse Generosität dem anderen gegenüber. Man verlangt immer sofort eine Entschuldigung und wenn die dann kommt, war sie oft nicht gut genug. Das ist absurd.

Ich schreibe lieber Komödien, weil sie glücklicher machen beim Schreiben.

Ich habe den Eindruck, wir leben in einer Zeit, in der ständig jemand gekränkt ist. Wer die eigene Gekränktheit vor sich herträgt, hat immer recht. Mein Gekränktsein darf mir keiner absprechen. Das macht es sehr schwierig, sich ehrlich auszutauschen.

Ich finde es schlimm, dass sich die Menschen damit freiwillig zum Opfer machen. Wir haben eben über Verantwortung geredet. Die Menschen übernehmen zu selten die Verantwortung für sich und sagen: Wenn es mir schlecht geht, dann habe ich auch meinen Anteil daran. Natürlich kann es auch äußere Umstände geben, aber meinen Anteil kann ich ändern. Ich muss nicht rufen, Papa Staat, mach doch mal was für mich. Das macht uns so klein als Menschen. Man muss die Richtigen, die wirklich Bedürftigen retten und nicht diejenigen, die sich gerade irgendwie besonders angefasst fühlen. Da appelliere ich an Stärke und Selbstbewusstsein.

Sie haben auch komödiantische Vorabendserien geschrieben, unter anderem "Unter Gaunern". Was schreiben Sie lieber, Krimis oder Komödien?

Ich schreibe lieber Komödien, weil sie glücklicher machen beim Schreiben. Letztendlich geht es dabei nicht darum, Witze zu erzählen. Das Problem mit deutscher Komödie ist, dass wir in jeder Szene einen Witz machen wollen. In unserer Serie bewegen wir uns einen Meter über der Realität, das ist hoffentlich pointiert. Aber wir erzählen Geschichten aus der Realität, wahre Geschichten, die wir recherchiert haben. Wenn es uns gelingt, sie so zu präsentieren, dass sie unterhaltsam sind, dann bin ich glücklich.

infobox: "Wo wir sind, ist oben", achtteilige Dramedy, Regie: Wolfgang Groos, Matthias Koßmehl, Buch: Christian Jeltsch (Headautor), Sebastian Bleyl, Anneke Jannsen, Kamera: Ahmet Tan, Felix Striegel, Produktion: Isarstraßen Film (ARD/Degeto, 14.6.24, 23.50-2.50 Uhr und 15.6.24, 0.35-3.45 Uhr, sowie ab 14.6. in der ARD-Mediathek)

dir



Zuerst veröffentlicht 13.06.2024 12:57 Letzte Änderung: 14.06.2024 12:43

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Serien, Interview, ARD, Jeltsch, Roether, BER, NEU

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