02.07.2024 08:20
Die Dokumentarfilmtagung Dokville in Stuttgart
epd Die britische Wissenschaftsfachzeitschrift "Nature" gab kürzlich einen Überblick über die Forschung zum Thema Desinformation. Eine Erkenntnis lautete: Berichte über Desinformationskampagnen könnten "den gleichen Effekt haben wie die Fehlinformationen selbst". Wenn Forscher über die Wirkung und das Ausmaß von Desinformation informierten, verringerten sie damit auch "das Vertrauen in zuverlässige Quellen", sagte der von "Nature" befragte Experimentalpsychologe Sacha Altay von der Universität Zürich.
Ähnliche Bedenken äußerte auch Swantje Kortemeyer, stellvertretende Referatsleiterin für strategische Kommunikation im Auswärtigen Amt, am 21. Juni bei der vom Haus des Dokumentarfilms Stuttgart veranstalteten zweitägigen Branchentagung Dokville. "Krieg und Des:Information" lautete das Oberthema in diesem Jahr. Es sei, so Kortemeyer in ihrem Impulsreferat, für ihr Ministerium zwar wichtig, auf Desinformation zu reagieren, zumal, wenn ein Post in den sozialen Medien ein Sicherheitsrisiko darstelle. Aber: "Wir müssen aufpassen, wie wir reagieren. Wir sollten nicht selbst Panik verbreiten." Kontraproduktiv sei es, "jede Woche" auf Manipulationen hinzuweisen, das könne verunsichernd wirken.
Zu der Tagung, bei der es neben spezifischen Fragen, die die Dokumentarfilmer umtreiben, auch um aktuelle Kriegsberichterstattung ging, war Kortemeyer unter anderem eingeladen worden, um Recherchen ihrer Abteilung zu präsentieren. Ende des vergangenen Jahres hatten Mitarbeitende innerhalb eines Monats bei der Plattform X ein Netzwerk von 50.000 unautorisierten Konten entdeckt, das in deutschsprachigen Posts gezielt prorussische Desinformation streute.
Kortemeyer ging in Stuttgart nicht nur auf die massive Verbreitung von Falschinformationen ein, sondern auch auf die von solchen Netzwerken erzeugte künstliche Verstärkung legitimer Meinungen. Jemand könne zum Beispiel durchaus der Ansicht sein, dass es wichtiger sei, Kindergärten zu finanzieren, als die Ukraine zu unterstützen. Zum Problem würden solche Posts, sagte Kortemeyer wenn sie von unauthentischen Accounts stammten, "innerhalb von Sekunden automatisiert verbreitet werden" und Views in siebenstelliger Höhe generieren, so dass ein völlig falsches Stimmungsbild entstehe.
Ein weiteres Thema in Kortemeyers Vortrag waren sogenannte Doppelgänger-Websites. Sie sehen auf den ersten Blick aus wie die Originalportale von zum Beispiel "Spiegel" oder "Süddeutscher Zeitung", sind tatsächlich aber Nachbauten, die im seriösen Gewand russische Narrative verbreiten.
Die Katholischen noch katholischer machen.
"Wie erreichen wir die, die mit Desinformation überschüttet werden?" - so lautete eine Frage, die Moderatorin Katharina Thoms, Baden-Württemberg-Korrespondentin von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur, den Teilnehmern des Panels "Medienverantwortung und Krieg" stellte. Marcus Bornheim, Chefredakteur von ARD Aktuell, sagte dazu, er habe "keine Antwort darauf, wie wir richtig an die rankommen". Dass die "Tagesschau" fünf Millionen Follower bei Instagram und 1,5 Millionen bei Youtube habe, sei "superschön", aber: "Es gibt ganz viele Gruppen, die uns durch die Finger rinnen."
Bornheim bezog sich auf die aktuellen Zahlen des Reuters Institute Digital News Report 2024, wonach nur 43 Prozent der erwachsenen Internetnutzer in Deutschland der Ansicht sind, man könne Nachrichten vertrauen. Derzeit, so Bornheim, sehe es so aus, dass "wir die Katholischen noch katholischer machen".
Moderatorin Thoms fragte auch, welche Auswirkungen die Kriege in der Ukraine und in Gaza auf den Arbeitsalltag in den Redaktionen hätten. Anne Gellinek, die die ZDF-Hauptredaktion Aktuelles leitet, sagte dazu, die Bilder aus diesen Kriegen setzten "auch den Menschen zu, die sich das jeden Tag anstehen müssen". Für Cutterinnen und Cutter, die das Bildmaterial sichten, und für Kameraleute gebe es beim ZDF eine "Traumabetreuerin".
Carolin Ollivier, Chefredakteurin von "Arte Info" wies darauf hin, dass über die Berichterstattung zum Thema Gaza-Krieg in der Redaktion des "Arte Journals" besonders intensiv diskutiert werde, da die Nachrichtensendung ein Publikum in Deutschland und Frankreich erreiche. "Es gibt in Frankreich eine größere Nähe zu palästinensischen Belangen als in Deutschland", sagte sie.
Gefragt wurde auch: Was darf, was muss man zeigen? Die "Heute Journal"-Moderatorin Gellinek sagte: "Die Würde der Menschen, der Opfer muss gewahrt bleiben. Wir zeigen keine Bilder von Leichen." Die Regel gilt auch, weil bei Hauptnachrichtensendungen Kinder vor dem Bildschirm sitzen. Wenn in Dokumentarfilmen Leichen gezeigt würden, sei das etwas anderes, weil Zuschauer sich solche Filme gezielt aussuchten, sagte Gellinek.
Das für die anwesenden Filmemacher und Produzenten zentrale Panel stand unter dem Titel "Streaming und Mediatheken - Herausforderungen für den Dokumentarfilm". Den Impulsvortrag für die Debatte hielt die ARD-Programmdirektorin Christine Strobl. "Wir brauchen immer noch mehr Leuchttürme, und wir brauchen andere Budgets, wenn wir international konkurrieren wollen", sagte sie und bezog sich damit auf den Wettbewerb mit den Streaming-Anbietern. Man müsse auf "Exzellenz setzen" und "Hochglanz nicht als etwas Abschreckendes begreifen".
Thomas Hinrichs, Informationsdirektor des Bayerischen Rundfunks und nebenamtlicher Koordinator für die Dokumentationen in der ARD, führte Strobls Gedanken beim darauffolgenden Panel weiter. Die ARD müsse beim "Production Value besser werden", sagte er. Damit stand die Frage im Raum: Wenn die Budgets ausgewählter, tendenziell für "Exzellenz" stehender Filme und Serien steigen - welche dokumentarischen Inhalte werden dann in der ARD-Mediathek künftig dominieren, und für welche Art von Produktionen wird weniger Geld zur Verfügung stehen? Zumal Hinrichs über den derzeitigen Output an Dokumentationen sagte: "Wir machen immer noch zu viel."
infobox: Bei der Dokville in Stuttgart treffen sich seit 2005 Jahr für Jahr Dokumentarfilmer und Dokumentarfilmerinnen und beschäftigen sich mit zeitkritischen Langformaten und aktuellen dokumentarischen Serien. Der Branchentreff wird veranstaltet vom Haus des Dokumentarfilms und dem Verein Europäisches Medienforum Stuttgart und wird von der MFG Baden-Württemberg unterstützt.
Strobl hob in ihrem Vortrag fast ausschließlich Dokumentationen und Dokuserien positiv hervor, "die auf Köpfe setzen", wie sie es formulierte, und gab damit eine indirekte Antwort auf die nicht ausgesprochene Frage. Sie erwähnte bereits gesendete oder demnächst zu sehende Produktionen über Loriot, Hape Kerkeling, Franz Beckenbauer, Jan Ullrich, Michael Schumacher, die Band Echt, Abba, Angela Merkel, Prinz Harry und die Leichtathletin Birgit Dressel.
Die ARD-Programmdirektorin ging auch auf Filmreihen ein, die in starkem Maße über die Journalisten funktionieren, die sie präsentieren: Jessy Wellmer, Markus Feldenkirchen, Ingo Zamperoni. Mit anderen Worten: Projekte, die keine Porträts sind oder nicht an einem prominenten Presenter aufgehängt werden, drohen ins Hintertreffen zu geraten.
Als Vertreter der Filmemacher saß Julian Vogel auf diesem Panel, der in der 2023 ausgestrahlten Dokumentarfilmtrilogie "Einzeltäter" (ZDF/Das kleine Fernsehspiel), die Angehörigen der Opfer der rechsterroristischen Morde von Hanau, Halle und München würdigt. Vogel, der dafür unter anderem mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete wurde, nutzte die Gelegenheit, ein Plädoyer für den Autorendokumentarfilm im Mediatheken-Zeitalter zu halten.
In der Mediatheken-Welt gelte heute die Regel, dass für das Publikum "in den ersten zehn Sekunden eines Films klar sein" müsse, um welches Thema es gehe, sagte Vogel: "Das mag für eine Reportage stimmen und das mag auch für eine Dokumentation stimmen, aber nicht für einen Dokumentarfilm."
Der Dokumentarfilmer sprach auch über seine eigene Rezeption von Mstyslav Chernovs Oscar-prämiertem und in diesem Jahr in der ARD gezeigten Dokumentarfilm "20 Tage in Mariupol". Chernov und sein Team waren in der Anfangsphase des russischen Angriffs auf die ukrainische Wirtschaftsmetropole Mariupol im Frühjahr 2022 die einzigen professionellen Berichterstatter in der Stadt. "Ich weiß seit dem Februar 2022, was in der Ukraine passiert, und trotzdem bringt er mich noch einmal zum Weinen", sagte Vogel. "Und das kann er, weil er einen Raum öffnet, weil er mir nicht die ganze Zeit sagt: Ich führe dich hier lang und will dir die Welt erklären." Der Dokumentarfilm stehe für eine "bestimmte Kulturtechnik", die im Widerspruch zur "Natur der Mediatheken" stehe, ergänzte er. Das Genre Dokumentarfilm sei "nicht nur wegen der Relevanz seiner Themen für unsere Demokratie und auch für die Dokumentation unserer Zeit unerlässlich".
bild: 3298 Copyright: Foto: privat Darstellung: Autorenbox Text: René Martens ist freier Journalist und Autor von epd medien. Titel: René Martens
Zuerst veröffentlicht 02.07.2024 10:20 Letzte Änderung: 02.07.2024 10:25
Schlagworte: Medien, Dokumentarfilm, Tagungen, Mediatheken, Strobl, Dokville, Martens, NEU
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