13.03.2024 15:36
epd Menschen, die in Extremsituationen überlebt haben, wissen das: Wer nicht völlig verrückt werden will, muss sich gedanklich an den vermeintlich kleinen Dingen festhalten. Wie Tom Hanks, der als Chuck Noland in Robert Zemeckis Film "Verschollen" (2000) auf einer einsamen Insel Gespräche mit einem Volleyball führt. Oder wie der Gefangene Nummer 432 in Wolfgang Borcherts autobiografischer Erzählung "Die Hundeblume": Ihn hält beim täglichen Hofgang nur der Anblick eines blühenden Löwenzahns aufrecht.
Als Borcherts Erzählung 1946 erschien, war die Hinrichtung der jungen Widerstandskämpferin Hilde Coppi gerade einmal drei Jahre her. Das kurze Leben der Berliner Versicherungsangestellten endete unter dem Fallbeil der Nazis, weil Coppi der "Roten Kapelle" um Harro Schulze-Boysen angehörte. Sie hatte ihrem Mann, Hans Coppi, bei der Beschaffung und Benutzung eines Funkgeräts geholfen und Briefe an Angehörige deutscher Soldaten geschrieben. In den Briefen hatte sie Eltern und Ehefrauen mitgeteilt, was sie durch das illegale Hören eines Moskauer Radiosenders wusste: Söhne und Ehemänner seien in russischer Kriegsgefangenschaft, aber am Leben.
In dem Moment, in dem Hilde festgenommen wird, pflückt sie gerade mit ihrer Mutter im Garten Erdbeeren. So beginnt Laila Stielers Hörspiel über diese freundliche, unspektakuläre Heldin. Andreas Dresens Verfilmung von Stielers Drehbuch lief kürzlich im Wettbewerb der Berlinale und kommt im Herbst ins Kino. Die Vergegenwärtigung des Geschmacks frischer Erdbeeren wird Hilde (Alina Stiegler) kurz darauf helfen, als man ihr den Gefängnisfraß hinstellt: Sie murmelt unter Aufbietung all ihrer Kräfte: "Erdbeeren. Erdbeermarmelade, Erdbeerschnitte, Erdbeeren. Hmmm, Erdbeertorte!" Dazu klappert der Löffel im Blechnapf. Die Kraft der Selbstsuggestion.
Vom Augenblick der Gefangennahme bewegt sich das Hörspiel auf zwei gegensätzlichen Zeitsträngen voran und zurück, bis schließlich unter dem Fallbeil beide brutal vereint und getrennt werden. Zum einen erzählt Stieler vom Alltag in der Zelle bis zu Hilde Coppis Hinrichtung. Coppi ist schwanger und unterstützt unter Duldung und Aufforderung der Wärterinnen schwangere Mitinsassinnen. Um Politik geht es in den wenigen Wortwechseln nicht, nur um Angst, Liebe und Zusammenhalt. Immer gefasster und stärker wirkt Hilde, gebiert ihr Kind im Gefängnis und erfährt Unterstützung von der pragmatisch zugewandten, gleichwohl systemkonformen Hebamme (Steffie Kühnert) und einem mitfühlenden Pfarrer (Jens Harzer).
Die Wärter und Wärterinnen sind nicht, wie zu erwarten, keifende Nazis, sondern bei aller Berliner Grobschlächtigkeit durchaus nett. Sie tun eben ihre Pflicht, sie machen mit, sind ganz normale Leute und keine Monster. Stieler unterbreitet ihrer Zuhörerschaft somit ein doppeltes, niedrigschwelliges Identifikationsangebot: Wäre man früher geboren worden, hätte man nicht genauso gut auf der Täterseite stehen können? Auf diese empathiegeleitete Reflexion hat es das Buch offensichtlich vor allem abgesehen, nicht auf die politischen Überzeugungen und Weltbilder.
Auf die Spitze getrieben und zugleich aufs Kreatürlich-Weibliche eingedampft wird das Erschütterungspotenzial der Geschichte durch Hildes Schwangerschaft, die Geburt und schließlich die Trennung von ihrem Kind. Damit Hilde ihr "Hänschen" stillen kann, wird die Vollstreckung der Todesstrafe um Monate verschoben. Es geht nicht um Güte oder Menschlichkeit: So ein Arierkind will man eben nicht verkommen lassen. Als der Sohn acht Monate alt ist, wird seine Mutter geköpft. Hans Coppi junior wird bei seinen Großeltern aufwachsen und spricht, als alter Mann, die letzten Worte des Hörspiels (wie des Films).
Der zweite, in Rückblenden eingebettete Erzählstrang besteht aus Szenen aus dem Leben einer ganz normalen, lebenslustigen, hilfsbereiten jungen Frau: Immer weiter im Zeitstrahl rückwärts gehend, feiert Hilde mit anderen Mitgliedern der von den Nazis so betitelten "Roten Kapelle" ausgelassene Partys, studiert das Morsealphabet und lernt schließlich ihre große Liebe Hans kennen. Dann fällt das Beil. Ende.
Alina Stiegler spielt Hilde mit betonter Heutigkeit und Normalität. Für die geringsten Dinge, wie das Aufschließen der Handschellen, um schreiben zu können, bedankt sie sich höflich. Sie ist keine Rebellin, sie ist eine, die sich fügt und es anderen recht machen will. Nur auf Drängen ihrer Mutter (Imogen Kogge) und ermuntert von ihrer Wärterin (Winnie Böwe), reicht sie bei Hitler ein Gnadengesuch ein. Hitler lehnt ab. Den letzten Brief diktiert sie gefasst, aber unter Tränen ihrem Seelsorger: Ihre beiden Herzenswünsche, nämlich vor ihrer Mutter zu sterben und ein Kind zu gebären, hätten sich ja erfüllt. "Und ich gehe mit frohem Herzen von dieser Welt."
Laila Stielers Geschichte, die auch als Vorlage für Dresens Film diente, wurde bei allem Lob vorgehalten, allzu unpolitisch zu sein, sich aufs Private zu beschränken. Diese Kritik ist nicht ganz unberechtigt, jedoch wirkt das Handeln und Fühlen am Beispiel einer so besonnenen, unaufgeregten Figur wie Hilde Coppi gerade in Zeiten hochemotionaler und ideologischer Aufrüstung fast schon wie eine anders kaum mehr mögliche Intervention. Borchert schrieb übrigens, dass sein im Gefängnis entstandenes Werk "Die Hundeblume", das uns Heutigen das subjektive Erleben von politischer Haft und Willkür besonders greifbar macht, mehr "ein privatestes als ein dichterisches ist".
infobox: "In Liebe, Eure Hilde", Hörspiel, Regie: Judith Lorentz, Buch: Laila Stieler (RBBKultur, 1.3.24, 19.00-19.30 Uhr und 8.3.24, 22.30-24.00 Uhr und in der ARD-Audiothek)
Zuerst veröffentlicht 13.03.2024 16:36
Schlagworte: Medien, Kritik, Radio, Kritik.(Radio), KRBB, Hörspiel, Stieler, Lorenz Lutz
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