Das große Bild - epd medien

12.06.2024 08:27

Die Migration gehört zu den brisantesten politischen Themen. Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung äußerten im vergangenen Jahr 60 Prozent der Deutschen die Meinung, das Land könne nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen. In der ARD-Dokumentation "Deutschland am Limit?" versucht WDR-Reporterin Isabel Schayani, die politischen Forderungen nach mehr Abschiebungen und strengeren Kontrollen mit der Wirklichkeit abzugleichen.

Reporterin Isabel Schayani in der ARD-Dokumentation "Deutschland am Limit" im Gespräch mit einem Grenzschützer in Bulgarien

epd Kurz vor der Europawahl bemühte sich die Dokumentation "Deutschland am Limit?" um einen Faktencheck zu einem großen Reizthema: Flucht und Migration. Reporterin Isabel Schayani sagte, sie wolle "versuchen, die politischen Forderungen mit der Wirklichkeit abzugleichen" und reiste an einige Brennpunkte des Geschehens: die deutsch-polnische und die bulgarisch-türkische Grenze, das Schleuser-Drehkreuz Istanbul, das sächsische Zittau. Und sie fuhr auch nach Lohmar, eine Kommune nahe Köln, wo Flüchtende untergebracht werden.

Schayani berichtet unvoreingenommen und unaufgeregt. Rasch zeigt sich, dass populistische Slogans nicht weiterhelfen. "Wir sind seit 2021 im Krisenmodus‘", sagt Falk Werner Orgus, Leiter der Ausländerbehörde in Görlitz. Man darf annehmen, er spricht stellvertretend für seine Kollegen in ganz Deutschland: Immer mehr Neuankömmlinge und kranke Mitarbeiter, Termine werden nur noch online vergeben. Die Autorinnen zitieren eine Bertelsmann-Studie von 2023, laut der 60 Prozent der Befragten sagten, Deutschland könne nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen.

Demokratieskeptischer Unterton

Der Dokumentation geht es um das große Bild der Migration, um die Frage, was getan wird, um sie zu begrenzen und um die blinden Flecken. Dafür reist Schayani unter anderem an die bulgarisch-türkische Grenze. Bulgarische Grenzschützer zeigen Überwachungsvideos, auf denen zu sehen ist, wie Türken Flüchtlinge vertreiben. An den massiv wirkenden Doppelzaun, berichtet einer, würden riesige flexible Leitern angelegt, die wie eine Brücke über die Befestigung genutzt würden. Der bulgarische Beamte meint, man müsse "Gesetze verändern, nicht mehr so demokratisch sein".

Ein ähnlich demokratieskeptischer Unterton ist bei Hans Leijtens herauszuhören, dem Exekutivdirektor der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex. Die Schlepper hätten viel Geld und müssten sich nicht um Menschenrechte, Datenschutz und Gewaltvermeidung kümmern.

Im LKW nach Österreich

Auf einem internationalen Polizeikongress in Berlin trifft Schayani Jürgen Ebner, den stellvertretenden Exekutivdirektor von Europol. Auch er klagt: 27 Mitgliedstaaten, Kooperationen mit 30 weiteren Ländern, doch niemand könne zu etwas gezwungen werden, auch nicht die Türkei. In Istanbul kann ein syrischer Kollege von Schayani überraschend schnell einen Flüchtlingsdeal klarmachen. Es genügt, in einem Büro Geld zu hinterlegen, "auf Vertrauensbasis", das die Schlepper nach der Flucht erhalten. "Noch heute im LKW nach Österreich", wird ihm angeboten.

Später zeigen Bundespolizisten, was das bedeutet: in einem beschlagnahmten LKW gab es für 28 Flüchtlinge jeweils 90 Zentimeter Platz. Manchmal werden Bretter unter die Ladefläche geklemmt, neben den LKW-Rädern. Über ihre Erfolge machen sich die Ermittler keine Illusionen. Erwischt würden nur die letzten Glieder der Kette der kriminellen Reisebüros, "aber wir wollen an die Reiseleiter".

Iraner, die über Belarus flüchteten, sagen, sie hätten es beim fünften Versuch nach Deutschland geschafft. Warum sie es immer wieder wagten? "Im Iran gibt es keine Freiheit!"

Konjunkturprogramm für Schlepper

Das Filmteam begleitet Finanzermittler der Bundespolizei bei einer Razzia gegen einen Schleuser aus der "mittleren Ebene". Migrationsexpertin Victoria Rietig sagt, Kontrollen seien ein "Konjunkturprogramm für Schlepper". Je strenger die Grenzen abgeschottet werden, umso teurer wird ihre Leistung.

In Lohmar fragt Schayani einen serbischen Roma, der mit seiner Familie gekommen ist, wo er denn in Serbien gelebt habe. - "Unter einem Zelt, auf der Müllhalde." Jetzt leben sie zu sechst in einem Zimmer, aber "mit Dach über dem Kopf". Er wünscht sich eine Zukunft für seine Kinder, Schule und Arbeit. Ob die Familie bleiben kann, ist fraglich. Serbien gilt als sicheres Herkunftsland.

Keine einfachen Lösungen

Die Stadt Lohmar hat Schwierigkeiten, die Flüchtlingsunterkünfte zu finanzieren. In anderen Städten protestieren die Menschen gegen die Unterbringung neuer Flüchtlinge. Die Autorinnen berichten von Sachzwängen, Sorgen und Hoffnungen. Sie weisen auf Mängel im System hin. Sie begleiten Joachim Stamp, seit 2023 Sonderbevollmächtigter der Bundesregierung für Migrationsabkommen, auf einem Flug nach Nairobi. Er will in Kenia für Unterstützung bei Abschiebungen werben.

Der Arzt Clemens Wirtz, der am Düsseldorfer Flughafen Rückführungen betreut, schildert, warum Abschiebungen nicht zustande kommen: Fieber, Abtauchen, Gerichtsentscheide. An Bord sei die Begleitung "sehr anstrengend". Die Abschiebung sei für die meisten Menschen "der schlimmste Tag in ihrem Leben".

Schayani bilanziert: Es gebe keine "einfachen Lösungen". Man könne die Migration nicht stoppen, im besten Fall nur lenken. Darüber müsste man "ehrlich sprechen".

infobox: "ARD Story: Deutschland am Limit? Abschiebung, Abschottung, Asyl", Dokumentation, Regie und Buch: Isabel Schayani, Mareike Wilms, Kamera: Salama Abdo, Frank Wittlinger, Norbert Nienstedt (ARD/WDR, 6.6.24, 23.05-23.50 Uhr und in der ARD-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 12.06.2024 10:27 Letzte Änderung: 13.06.2024 12:56

Dieter Dehler

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KARD, KWDR, Dokumentation, Schayani, Wilms Dehler, NEU

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