Stilles Wunder - epd medien

23.04.2024 08:14

Hannah, Mitte 30 ist nicht auf der Suche nach der großen Liebe. Sie will Sex, datet Männer auf verschiedenen Portalen. Elisabeth Weilenmann spielt im Hörspiel "Libidodialoge" die Ambivalenzen der Beziehungen zwischen Frau und Mann durch.

epd Das nennt man tragisch: Wenn jemand versucht, die Erfüllung einer Prophezeiung zu umgehen, und sie dadurch erst herbeiführt. Was der antike Held Ödipus hinbekommt, kann die seit ihrer Scheidung sich intensiv auf Datingportalen betätigende Hannah schon lange. Nur weiß sie es bis kurz vor Ende der drei Folgen der "Libidodialoge" noch nicht: dass sie eines Tages genau den Mann finden wird, vor dem sie ihr ganzes Leben lang davongelaufen ist. Den Einen, den sie so liebt wie keinen.

Er ist der, von dem ihre Mutter voraussagte, er werde eines Tages eintreffen, wie im altbekannten Schlager "Ein Schiff wird kommen", und die Tochter glücklich machen. Hannah jedoch will nichts davon wissen. Sie will nicht, dass ein Mann ihre Sicht aufs freie Meer des Lebens versperrt, sie vereinnahmt, langweilt und am Ende betrügt und verlässt wie ihr Ex-Mann. Sie ist Feministin! Und zwar eine, die es bei aller Liebe zum Sex nicht nötig hat, sich in Abhängigkeit zu begeben und anzupassen. Eine, die sich "die Männer pflücken kann". Die haben Angst vor ihr, das gefällt ihr und enttäuscht sie zugleich, denn sie will ja Nähe. Immer diese Ambivalenzen.

Hannahs Erkundungstrip der eigenen Lust, begonnen vor zwei Jahren unter dem Titel "Leck mich" (Kritik in epd 16/22), ist natürlich auch ein seelischer Akt, eine Introspektion. Sie weiß: Ihre Mutter hat nicht nur den Wunsch nach dem Einen, sondern auch Schmerz und Trauma an sie weitergegeben. Dass der Vater jahrzehntelang eine Geliebte hatte, empfanden auch Hannah und ihre fünf Schwestern als Betrug. Und war sie, als eine von sechs Geschwistern, nicht schon immer "eine von vielen"? Musste ihre eigene Ehe deshalb scheitern? Sucht sie sich deshalb ständig aufs Neue narzisstische Typen aus, die sie belügen und sie entgegen anderslautenden Beteuerungen als Nummer behandeln?

Das Konzertieren mehrerer Stimmen inszeniert Elisabeth Weilenmann als Sprechduette innerer und äußerer Instanzen aus Ich und Du und Er und Sie, unterbrochen, gepuscht und dann wieder sanft begleitet von einer starken Auswahl miteinander tief verschränkter, erotisch aggressiver bis zarter Musikfragmente vom selbst ermächtigenden Rap bis zur höchsten Koloratur-Ekstase. Bis sich im Vogelgezwitscher das Wahre und Natürliche Bahn brechen darf, aber bis dahin muss Hannah einige Federn lassen.

Der erste Teil der Trilogie mit dem trotzigen Titel "Leck mich" endete noch offen. Eine seelenvolle Sprachlosigkeit folgte dieser auch auf der Musikebene sexy halb ausgeleuchteten implizit-expliziten Suche nach dem eigenen Wollen und Begehren, was ja nicht immer dasselbe ist. Mit 35 meldete sich Hannah damals auf zwei Dating-Apps an: einer für unverbindlichen Sex und einer für Beziehungen. Schon bald neigten die Begegnungen aus beiden Apps dazu, sich anzugleichen: Gefühle keimten auf, Verletzungen waren die Folge. "Fuck you" heißt konsequenterweise der zweite Teil. Da begegnet Hannah einem Mann namens Vincent (Isaak Dentler). Er ist ein fantasievoller Machtspieler, sein Spiel macht ihr Spaß. Er gibt von sich kaum etwas preis, das macht Hannah zunehmend nervös. Wird er zum Schiff, das ihre Sicht versperrt? Sagt er überhaupt die Wahrheit über seinen Beziehungsstatus?

In einem der vielen inneren Monologe, die Lou Strenger mit mal schnurrig-geschmeidiger, mal traurig dunkler, mal bitter angehärteter Stimme spricht, passiert beides parallel oder gleichzeitig: Da genießt oder erleidet Hannah den Moment, reflektiert aber zugleich auch mit scharfem, lektüregesättigtem, theoriekundigem Verstand die Dramaturgie solcher Treffen und Machtgefüge. Wäre es zu viel verlangt vom Leben, fragt sie sich einmal im Gespräch mit einer Freundin, einen "sexy Feministen" zu finden? Oder wäre das genauso unmöglich und ungerecht, wie Frauen die Rollenalternativen "Heilige und Hure" aufzubürden?

Als Hörspiel über Sinnlichkeit setzt "Libidodialoge" in den Folgen zwei und drei auch ästhetisch fort, was in "Leck mich" schon gelungen war: Inniglichkeit und Innerlichkeit, Reflexion und Interaktion, Musik und Sprache zu einem so verführerisch tiefen wie kurzweiligen Trip zu verbinden. Im dritten Teil, "Hals über Kopf", droht dann aber die Klage über die Erfahrungen und unerfüllten Sehnsüchte, das Durchanalysieren "toxischer" (wie eine Freundin sagt) Begegnungen doch etwas strapaziös zu werden. Weder mit ihrer Mutter noch mit ihrer besten Freundin oder ihrer Schwester spricht sie über etwas anderes als über Männer.

Doch bevor man Hannah genervt fragen könnte, ob sie schon einmal vom Bechdel-Test gehört hat, nach dem es kein gutes Zeichen ist, wenn Frauen miteinander einzig und allein über Männer reden, denkt sie genau darüber nach. Fragt sich, ob sie nicht auch noch andere Lebensthemen hat, mit denen sie doch eigentlich im Reinen ist. Hannahs analytischer Verstand lässt sie einsehen, dass Loslassen eine gute Sache ist. Vor allem das Loslassen jenes vom Kapitalismus beworbenen Konzepts der "romantischen Liebe", das nur die sozioökonomischen Hierarchien zwischen den Geschlechtern zementiere, bei denen Frauen strukturell benachteiligt würden, wie sie aus Gunda Windmüllers Buch "Weiblich, ledig, glücklich sucht nicht" zitiert.

Sie hört auf, etwas zu erwarten. Kapituliert. Wird frei. Geht offline. Als sie aufhört zu suchen, findet sie. Und davon erzählt Weilenmann in ruhigem Ton, wie von einem stillen Wunder, größer als alles Marktgeschrei von Traummann und ewiger Liebe.

infobox: "Libidodialoge - Eine Dating-Sinfonie in 3 Sätzen", dreiteiliges Hörspiel, Regie und Buch: Elisabeth Weilenmann; 1. "Leck mich" (Wiederholung); 2. "Fuck you"; 3. "Hals über Kopf" (HR2/ORF, 7.4., 14.4 und 21.4.24, jeweils 14.04-15.00 Uhr, alle drei Teile seit 8.4.24 in der ARD-Audiothek)



Zuerst veröffentlicht 23.04.2024 10:14

Cosima Lutz

Schlagworte: Medien, Radio, Kritik, Kritik.(Radio), KHR, KORF, Hörspiel, Weilenmann, Lutz

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