Sensible Gratwanderung - epd medien

27.05.2024 09:55

Die Arte-Dokumentation "Emilie Schindler - Die vergessene Heldin" würdigt das schwierige Schicksal der Ehefrau Oskar Schindlers.

Emilie Schindler wuchs als Emilie Pelzl im Sudetenland auf

epd 1.200 Juden rettete er das Leben und wurde dafür zu Recht geehrt. Steven Spielbergs Film, der vor 30 Jahren in die Kinos kam, machte ihn posthum unsterblich. Seine Frau Emilie Schindler spielt in dieser offiziellen Darstellung so gut wie keine Rolle. Annette Baumeisters Dokumentation zeigt, welch erheblichen Anteil sie seinerzeit an der Rettungstat hatte. Die gesamte Geschichte erscheint dadurch in neuem Licht.

Auf den ersten Blick ist es ein typisches und ziemlich trauriges Frauenschicksal. Emilie Pelzl, 1907 im Sudetenland geboren, muss als junge Frau ihren Vater pflegen, der schwer traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam. Vor Oskar Schindler, einem Herzensbrecher, in den die 20-Jährige sich verliebt, warnt man sie vergeblich. Emilie heiratet den "Playboy vom Lande", der permanent Affären hat und jenes "kleine Vermögen", das sie als Mitgift in die Ehe bringt, mit stümperhaften Investitionen durchbringt.

Allmähliches Umdenken

Als NSDAP-Mitläufer, der sich das Vertrauen der Nazis erschleicht, kann Oskar Schindler schließlich doch das ersehnte großspurige Leben führen. In Krakau übernimmt er eine jüdische Fabrik, die unter anderem für die Rüstung produziert. Während Schindler sich in Kasinos vergnügt, schmeißt seine Frau den Laden. Ranghohe Nazis und Wehrmachtsoffiziere gehen derweil ein und aus, darunter der berüchtigte Lagerkommandant Amon Göth. Als "Opportunisten ohne schlechtes Gewissen" genießen die Schindlers den Wohlstand.

Das Umdenken, so zeigt der Film, erfolgt erst allmählich. So bekommen die Schindlers mit, wie es den Juden in Krakau von Woche zu Woche schlechter ging. Die Dokumentation rekonstruiert, wie Emilie Schindler in Abwesenheit ihres Mannes Zivilcourage bewies, indem sie etwa hundert halb verhungerte und erfrorene jüdische KZ-Insassen aus einem verschlossenen Eisenbahnwaggon rettet und mit Medikamenten, die sie auf dem Schwarzmarkt eintauschte, behutsam aufpäppelt.

Mosaikartige Erzählung

Diese aufschlussreiche Episode, die Emilie Schindlers Charakterstärke zeigt, schildert die Dokumentation gleich zu Anfang. Leider rekonstruiert der Film die Ereignisse nicht chronologisch. Mosaikartig setzt die Dokumentation die höchst unterschiedlichen Phasen im ereignisreichen Leben der Schindler-Ehefrau zusammen. Der Zuschauer verliert zuweilen den Überblick.

Die eigentlichen Umstände, die schließlich dazu führten, dass Schindler sich nach der Schließung seiner Fabrik nicht mit einem Millionengewinn aus dem Staub machte, sondern die Produktion auf eigene Kosten nach Brünnlitz verlegte - und damit den in ihr beschäftigten jüdischen Zwangsarbeitern das Leben rettete -, sind nicht zuletzt dank Spielbergs Film bekannt. Baumeister ergänzt diese offizielle Version, indem sie nachreicht, dass der aberwitzige Plan nur durch die tatkräftige und moralische Unterstützung von Schindlers bodenständiger Frau gelingen konnte.

Am Rand der Armut

Spielbergs Kinoerfolg endet mit einem Pathos. Dagegen erinnert Annette Baumeister an das düstere Ende, das die Geschichte für jene Frau nahm, deren Anteil an der Rettung lange Zeit niemanden zu interessieren schien. Mit dem Geld der jüdischen Community wanderte das Paar 1949 nach Argentinien aus - wo Oskar Schindler, wie sollte es anders sein, wieder einmal eine Pleite hinlegt. Während er später durch die Welt jettet, um sich als Retter feiern zu lassen, bleibt seine Frau mit 250.000 Mark Schulden zurück. Zeitzeugen erinnern sich, wie sie verbittert und vereinsamt am Rande der Armut dahinlebt.

Auf Spielbergs Film und die mit ihm untrennbar verknüpfte Problematik der fiktiven Darstellung des Holocausts auf der großen Leinwand geht die Dokumentation leider nur am Rande ein. Das ist schade, denn der differenzierte Blick auf die Biografie der vergessenen Heldin verdeutlicht Schwachstellen von Spielbergs Film "Schindlers Liste", der die Geschichte im Stil eines emotionalen Überwältigungskinos schon etwas glättet.

Kein "großes Kino"

Die Dokumentation ist eine sensible Gratwanderung. Ohne das Verdienst Oskar Schindlers zu schmälern, rückt Baumeister die Geschichte zurecht. Sie holt Emilie Schindler aus dem Schatten ihres Mannes - der durch Spielbergs große Kinoerzählung, in der sie als betrogene Ehefrau nur eine unbedeutende Nebenrolle spielt, noch größer geworden ist. Dagegen ist Emilie Schindlers Geschichte zwar berührend - aber eben kein "großes Kino".

Gewiss, Oskar Schindler erscheint nach wie vor als Held. Doch die Dokumentation, deren Reenactment zurückhaltend bleibt - im Gegensatz zur Musikuntermalung, die etwas dezenter hätte ausfallen können -, trägt überfällige Korrekturen nach. Zu Besuch im Hospital, wo Emilie sich nach dem Krieg von einer Fehlgeburt erholte, brachte Schindler ausgerechnet eine neue Geliebte mit ans Krankenbett. Baumeister deutet an, dass Schindler arrogant und selbstgefällig war - und dass er keine Ahnung von Geschäften hatte. Doch gerade aufgrund dieser Schwächen, so arbeitet die sehenswerte Dokumentation heraus, konnte ihm - mit Hilfe seiner Frau - dieser unvergessene Husarenstreich der Rettung von 1.200 Juden gelingen. Helden sind zuweilen anders, als man sie sich vorstellt.

infobox: "Emilie Schindler - Die vergessene Heldin", Dokumentation, Regie und Buch: Annette Baumeister, Kamera: Johannes Straub, Produktion: Tangram (Arte/BR, 20.5.24, 23.00-23.55 Uhr und bis 18.8.24 in der Arte-Mediathek)



Zuerst veröffentlicht 27.05.2024 11:55

Manfred Riepe

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KArte, Dokumentation, Baumeister, Riepe

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