Das Business ist krank - epd medien

18.05.2024 08:00

Das SWR-Format "Vollbild" befasst sich mit den Wechselwirkungen der Märkte für Influencer und Reality-TV-Stars. Die Dokumentation aus der Investigativ-Reihe zeichnet das Bild einer verrohten Branche.

Logo des SWR-Recherche-Formats "Vollbild"

epd Das Geschäftsmodell Reality-TV ausleuchten und die Frage stellen, wie viel Fiktion in Formaten wie dem "Sommerhaus der Stars" oder "Der Bachelor" stecken? Der Medienkritiker winkt zunächst müde ab: Hatten wir doch alles schon. Mehrfach. Und besinnt sich dann doch eines Besseren. Denn angesichts des aktuell zu beobachtenden Reality-Booms haben das SWR-Format "Vollbild" und Host Sarah Lehnert einen geeigneten Zeitpunkt für ihre Recherche gewählt.

Nicht nur haben Streamingdienste den Markt für sich entdeckt und die Anzahl der Formate erhöht, auch inhaltlich hat sich das Genre weiter ausdifferenziert. Hybride Formate, die mit Game-Elementen arbeiten, wie etwa "The Circle" von Netflix, treten stärker hervor. Realityshow-Teilnehmerin ist zwar längst ein Beruf, doch als Reality in Deutschland in den frühen Nullerjahren im Gefolge von "Big Brother" erstmals boomte, gab es noch keine Influencer.

Vom Reality-Star zum Influencer

Wie sich die Märkte für Influencer und Reality-TV-Stars gegenseitig befruchten, gehört denn auch zu den interessantesten Aspekten dieser Ausgabe von "Vollbild", jenem seit knapp zwei Jahren vom "Report Mainz"-Team und Labo M für die Mediathek und Youtube produzierten Investigativformat. Wir erfahren, wie gut Reality-Stars nach einer Showteilnahme mit ihren Instagram-Profilen verdienen können - teilweise deutlich mehr als durch die TV-Gage. Das gilt zumindest hauptsächlich für Frauen, weil die für eine breitere Palette an Produkten werben können. Umgekehrt verhilft die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken Influencern zum Sprung ins Reality-TV.

Resigniert klingt es dagegen, wenn Annemarie Eilfeld ("Deutschland sucht den Superstar" 2009) in der Doku einen erneut schief gelaufenen Ausflug ins Reality-TV ("Das Sommerhaus der Stars" 2020) damit begründet, dass sie ihre Sängerinnenkarriere zu einer Zeit gestartet habe, in der es noch kein Instagram oder Tiktok gab. Ihre Verdienstmöglichkeiten seien somit beschränkter als bei jüngeren Stars. Eilfeld wurde nach dem Einzug ins "Sommerhaus", wie schon bei ihrer DSDS-Teilnahme, Zielscheibe von Hass und Mobbing im Netz. Sie habe das Spiel wieder falsch gespielt, sagt sie jetzt.

zitat: Die Leute sollen ruhig kotzen, wenn sie mich sehen.

Die "Vollbild"-Folge lebt vor allem von den Interviews mit aktuellen und ehemaligen Reality-Stars. Walentina Doronina, in der Rolle der Dauer-Pöblerin aktuell gut gebucht im Reality-Business (unter anderem "Ex on the Beach", "Sommerhaus der Stars", "Promi Big Brother"), spricht offen über die Aufmerksamkeitsökonomie, die das Geschäft zwischen Sendern und Produktionsfirmen auf der einen sowie den Darstellern auf der anderen Seite prägt. "Das Business ist krank", sagt sie - und klingt dabei nicht resigniert, sondern ganz selbstbewusst. "Die Leute sollen ruhig kotzen, wenn sie mich sehen", erklärt sie an anderer Stelle. Hauptsache Aufmerksamkeit, egal wie.

Von Seiten der Produktionsunternehmen wollte niemand vor der Kamera mit dem Team sprechen. Immer wieder werden schriftliche Statements von RTL eingeblendet. "Vollbild" gelingt es jedoch, einen ehemaligen Realisator aus der Branche ausfindig zu machen, der anonymisiert zu Wort kommt. Eine ehemalige Datingshow-Kandidatin berichtet ebenfalls anonym über Alkoholexzesse am Set, von den Produktionsleuten befeuert. Auch von nächtlicher Dauerbeschallung mit Schlagermusik ist die Rede, um die Kandidaten übermüdet in den Kontrollverlust zu treiben.

Mit einem "Hähnchengate" enthüllt die Folge, was niemanden überraschen sollte: Nicht alles, was wir im Reality-Fernsehen sehen, hat sich auch wirklich so zugetragen. Walentina, so suggeriert es eine Folge des "Sommerhauses der Stars", habe ein ganzes Hähnchen mit ihrem Freund alleine gegessen, statt mit den anderen Kandidaten zu teilen. War gar nicht so, verrät sie "Vollbild".

Rufe auf der Tonspur

Im letzten Viertel widmet sich die 52-minütige Folge dann dem eigentlichen Scoop der Recherche: "Vollbild" berichtet von einem sexuellen Übergriff, der sich am Set einer Datingshow von RTL ereignet haben soll. Anonym zu Wort kommt nicht nur eine Zeugin, sondern auch die betroffene Teilnehmerin. Ein anderer Kandidat habe ihr während einer Party in einem Badezimmer die Hose heruntergezogen und Sex mit ihr haben wollen, obwohl sie mehrmals Nein gesagt habe. Dass die Kandidaten dabei verkabelt gewesen seien, habe letztlich das Produktionsteam auf den Plan gerufen, das ihre Rufe auf der Tonspur gehört habe und eingeschritten sei.

Trotz ihrer Vorwürfe werde der Reality-Star weiter von dem Produktionsunternehmen gebucht; auch sei sie aufgefordert worden, den Vorfall nicht nach außen zu tragen. Die Firma - ihr Name bleibt ungenannt - bestreitet das über ihre Anwaltskanzlei; den Übergriff selbst könne sie weder bestätigen noch dementieren.

Kampf um Aufmerksamkeit

So zeichnet "Vollbild" das Bild einer verrohten Branche, in der dem Kampf um Aufmerksamkeit vieles untergeordnet wird. Dabei widerstehen die Macher der Dokumentation der Gefahr, die Reality-Stars selbst bloßzustellen. Stattdessen machen sie die Motive hinter einer Teilnahme an derlei Shows ein Stück weit verstehbar. Dass das Reality-Geschäftsmodell bei aller Kritik nur deswegen funktionieren kann, weil die Sendungen ein Publikum finden, ist ein Punkt, der zwar gestreift wird, aber noch deutlicher thematisiert hätte werden können.

Verzichtbar gewesen wären hingegen eine Reihe von rhetorischen Fragen, die Sarah Lehnert immer wieder stellt, etwa, ob Sender und Produktionen vor allem auf Emotionen setzten. Und dass Reality-TV nicht "real" ist, wie der Titel der Youtube-Version des Films fragt, konnte jeder ahnen. Der Film hätte seine großen Stärken - Einblicke in die Arbeitsbedingungen der Branche, deren Folgen für die Beteiligten und das dahinterstehende Geschäftsmodell zu geben - noch stärker ausspielen können.

infobox: "Vollbild: Wie fake ist Reality TV? - Sex, Alkohol, Manipulation? Reality-TV-Stars packen aus", Dokumentation, Autorin: Sarah Lehnert, Kamera: Sarina Laudam, Lucas Radermacher, Chris Napiorkowski, Produktion: Labo M (SWR, seit 30.4.24 in der ARD-Mediathek und bei Youtube)



Zuerst veröffentlicht 18.05.2024 10:00

Dominik Speck

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Kritik, Kritik.(Fernsehen), Dokumentation, KARD, Lehnert, Labo M

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