Immerzu verrannt - epd medien

19.02.2024 09:56

Beim ESC-Vorentscheid interessierte sich die ARD offenbar wieder einmal mehr für Einschaltquoten als für überzeugende Acts. Eine Kurskorrektur ist überfällig.

Zum ESC-Vorentscheid "Das deutsche Finale"

Alle Teilnehmer des deutschen ESC-Vorentscheids 2024: Max Mutzke, Marie Reim, NinetyNine, Leona, Floryan, Bodine Monet, Isaak, Galant und Ryk (v. l. n. r.).

epd Dem NDR jedes Jahr dabei zuzuschauen, wie er sich verzweifelt aller erdenklichen Mittel bedient, um das Stammpublikum der ARD mit einer musikalisch abwechslungsreichen Fernsehshow bloß nicht zu überfordern, frustriert ungemein. Am 16. Februar war es beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest (ESC) wieder so weit.

Viel zu lange Talkstrecken zwischen den Auftritten der Kandidaten bremsten die Suche nach dem deutschen ESC-Act ständig aus, nur damit etablierte Fernsehgesichter wie Moderatorin Barbara Schöneberger oder Schlagershow-Promoter Florian Silbereisen Sendezeit füllende Anknüpfungspunkte für all jene Zuschauer anbieten konnten, die mit der dargebotenen Musik wenig anzufangen wissen. Anstatt so wie Talkgast Mary Roos wenigstens von der eigenen Grand-Prix-Erfahrung erzählen zu können, sprach Schöneberger mit Silbereisen unangenehm ausführlich über ihre Erfahrungen mit Zahnausfall und ließ sich vom Geburtstagskind Riccardo Simonetti seine rote Unterhose zeigen, während neben ihm auf der ohnehin überflüssigen Talkcouch Sängerin Alli Neumann krampfhaft versuchte zu erklären, was sie eigentlich mit dem ESC zu tun hat.

Irrelevante Promigeschichten

Einspieler und weitere Gespräche mit bekannten Begleitpersonen füllten noch mehr Sendezeit mit für die Entscheidung irrelevanten Promigeschichten. Zu oft gerieten die neun motivierten Kandidaten und ihre Songs in den Hintergrund - ein Unding für einen Vorentscheid, der sich neuerdings selbstbewusst "Das deutsche Finale" nennt.

Das eigentliche Interesse des NDR offenbart auch ein Blick auf die Teilnehmer: Die beiden bekanntesten Namen - Marie Reim und Max Mutzke - standen in der Startreihenfolge der Show auf den letzten beiden Plätzen, was gemeinhin als Vorteil bei der anschließenden Abstimmung gilt, vor allem aber das Publikum möglichst lang vor dem Bildschirm halten soll. So verkommen die Zusammensetzung des musikalisch recht eintönigen Teilnehmerfelds und die Startreihenfolge zu einer von Einschaltquoten getriebenen Entscheidung.

Für weiteren Unmut sorgte die veränderte Punktevergabe ebenso wie die in sozialen Medien geposteten Abstimmungsaufrufe zahlreicher reichweitenstarker Prominenter wie Joko Winterscheidt, der für Max Mutzke geworben hatte, ohne dessen - mit Verlaub - öden Song je gehört zu haben, oder Jens Knossalla, der seine 1,8 Millionen Instagram-Follower zur Stimmvergabe an den Ostwestfalen Isaak aufgerufen hatte.

Blick nach Luxemburg

Dieser gewann letztlich sowohl die Jury- als auch die Publikumswertung und wird mit seinem belanglosen Song "Always On The Run" genau jenen Musikstil nach Malmö bringen, den Fans seit Jahren als Hauptgrund für Deutschlands schwaches Abschneiden im Wettbewerb aufführen. Fan-Favorit Ryk, der den einzigen beeindruckenden Auftritt des Abends hinlegte, blieb auf einem dritten Platz hinter Max Mutzke zurück, während Floryan nach seinem Wildcard-Sieg im misslungenen Castingformat "Ich will zum ESC!" denkbar knapp an der niedrigstmöglichen Gesamtpunktzahl vorbeischrammte.

Nun herrscht viel Frust über die Prioritätensetzung im deutschen Auswahlprozess und über die vielen Mängel im Vorentscheid. Dass es so nicht sein muss, zeigt beispielsweise ein Blick nach Luxemburg, wo RTL im Januar ein von Désirée Nosbusch großartig moderierter und kurzweiliger Vorentscheid gelang. Der NDR dagegen scheint am selbst verschuldeten Zielkonflikt zwischen dem Erreichen hoher Zuschauerzahlen und der Auswahl eines wettbewerbsfähigen ESC-Beitrags zu scheitern, sodass bei all dem weder eine zeitgemäße Unterhaltungsshow noch ein geeigneter Song herauskommt. Das Klammern an die Quote greift offensichtlich selbst nach 22 Uhr tief in die Konzeption und Gestaltung der Show, in die Wahl von Moderation und Gästen sowie leider auch in die Auswahl von Musikgenres hinein. Das Resultat im Mai wird zur Nebensache, denn der ESC wird ja ohnehin jedes Jahr angeschaut - letzter Platz hin oder her.

Weg frei für gute Auswahlprozesse

Solange der NDR mit überholten Fernsehkonventionen unentwegt dem vermeintlichen Geschmack seines Stammpublikums hinterherrennt, wird ihm auf der Suche nach einem starken Beitrag die Ausdauer fehlen - falls ihm die talentierten Künstler bis dahin nicht ohnehin schon davongelaufen sind. Programmdirektoren und Abteilungsleiter müssen endlich zeigen, dass sie den ESC als Wettbewerb begreifen, der sich nicht für Vorentscheidquoten interessiert, sondern für überzeugende Acts. Erst wenn der Weg frei ist für rücksichtslos gute Auswahlprozesse, kann in einem ebenso rücksichtslos guten Vorentscheid ein vielversprechender Vertreter gefunden werden.

Diese überfällige Kurskorrektur kann aber nicht bis nächstes Jahr warten. Zwar mag der deutsche ESC-Beitrag nun feststehen, doch ein weiterer Platz in Malmö ist noch unbesetzt: der des Kommentators. Die Rufe nach Radiomoderator Constantin Zöller, der seit Jahren als ESC-Songchecker und Kommentator des Junior ESC hervorragende Arbeit leistet, sind deutlich zu vernehmen. Man könnte sich für ihn entscheiden - oder aber immer weiter dem kleinsten gemeinsamen Nenner hinterherrennen, ganz getreu dem Siegertitel des Vorentscheids.

Lukas Respondek Copyright: Foto: privat Darstellung: Autorenbox Text: Lukas Respondek ist freier TV-Kritiker und Redakteur bei "fernsehserien.de" und "TV-Wunschliste". Seit 2020 wirkt er als Juror und Nominierungskommissionsmitglied an der Auswahl für den Grimme-Preis mit.



Zuerst veröffentlicht 19.02.2024 10:56 Letzte Änderung: 20.02.2024 09:36

Lukas Respondek