Spielen und Sein - epd medien

19.05.2024 08:00

Im März kritisierten mehrere Frauenverbände den Fernsehfilm "Sie sagt. Er sagt" von Ferdinand von Schirach und Matti Geschonneck, den das ZDF im Februar gesendet hatte. In einer Stellungnahme schrieben sie, der Film sei "von einer fast reinen Cis-Männerriege" gemacht worden. Es sei ärgerlich, wenn Filmemacher Themen "inhaltlich besetzen, von denen sie keine Ahnung haben". Diese Argumentation findet Barbara Sichtermann kunstfeindlich.

Wie Identitätspolitik die Freiheit der Kunst angreift

Ina Weisse spielt die Zeugin der Nebenklage und Geschädigte Katharina Schlüter in "Sie sagt. Er sagt."

epd Feministinnen in den Sphären der darstellenden Künste, die zugleich offen sind für den identitätspolitischen Diskurs und dabei den Kulturrelativismus nicht scheuen, fordern seit Jahren eine Engführung von "Spielen" und "Sein". So sollten bitte im Fernsehkrimi Migrantinnen auch von Migrantinnen verkörpert werden, und behinderte Personen dürften niemals von Nicht-Behinderten gespielt werden, es gebe auch unter SchauspielerInnen genügend Menschen mit Beeinträchtigungen, die für solche Rollen besser oder überhaupt geeignet seien.

Inzwischen dehnen diese Aktivistinnen ihre Forderungen nach "Authentizität" auf die Felder Produktion, Regie und Drehbuch aus. Wer das, was er spielt oder inszeniert oder produziert, nicht zumindest teilweise auch ist, habe kein Recht darauf, seine Stimme zu erheben.

Das Problem dabei: Spielen ist nicht gleich Sein. Obschon "Sein" auch "Spielen" ist.

Sie ist kompliziert, die Sache mit dem "Sein" und dem "Spielen" - eines aber ist ganz einfach: Spielen können alle alles. Sein indessen kann jedes Individuum nur für sich. Zur Voraussetzung für gutes Spielen aber gehört nicht, dass die Spielenden das, was sie darstellen, "sind", eher im Gegenteil. Kinder verwandeln sich in Schildkröten und in den Polarstern, und wenn sie sich wieder zurückverwandeln in Max und Lene, haben sie eine wunderbare Erfahrung gemacht, die in ihr "Sein" hineinwirkt.

Auch im Leben spielen wir alle immerzu, wir "sind" das eine und tun so, als seien wir etwas anderes.

Hier sei diese These aufgestellt: In dem Moment, in dem die essenzialistische Voraussetzung, man könne nur darstellen oder inszenieren oder produzieren, was man auch ist, etabliert wird, geht nicht nur die Bühnen- oder Filmkunst zugrunde, sondern es wird das Leben selbst, jenseits aller Bühnen oder Filmleinwände, beschädigt. Denn auch im Leben spielen wir alle immerzu, wir "sind" das eine und tun so, als seien wir etwas anderes. Und während wir spielen, "sind" wir zugleich unsere Rollen, im Leben und vor der Kamera.

Das klingt wieder sehr kompliziert, verliert aber seinen Zumutungscharakter, wenn wir uns daran erinnern, dass alle alles spielen können. Die Trennung von Spielen und Sein ist immer da, aber es gibt eine Unschärfe bei der Abgrenzung, das eine scheint gern in das andere übergehen zu wollen. Und die Trennung kann sogar ganz wegfallen. So, wenn ein Mensch unserer Zeit glaubt, er sei wirklich Napoleon, oder wenn jemand nie ausprobiert hat, wie es ist, jemand anders zu sein und es dann auch nicht lernt, sich in jemand hineinzuversetzen. In beiden Fällen ist dann die Psychiatrie zuständig.

Sehnsucht nach Authentizität

Dass heutzutage die Identitätspolitik so mächtig wird und jenseits (oder diesseits) von Politik auch das Menschsein und die Künste immer stärker beeinflusst, mag damit zu tun haben, dass die Sehnsucht nach Authentizität wächst, weil die technischen Möglichkeiten in den digitalen Medien immer mehr Falsifikationen, Identitätsdiebstähle, Fakes und Fälschungen begünstigen, so dass die Nutzer überhaupt nicht mehr wissen, was "echt" ist und was vorgetäuscht und wem sie vertrauen dürfen. So kommt man dann auf den Ausweg: Das, was jemand aufgrund seiner Geburt, seines Geschlechts, seiner ethnischen Zugehörigkeit und so weiter ist, das ist dann ja wohl "echt" und vertrauenswürdig.

Die Identität als letzte Figur im Spiel, die man noch anfassen kann, als unhintergehbare Authentizitätsbasis. Aber natürlich ist dieser "Ausweg" die übelste aller Täuschungen. Schon dass das "Sein" nie festliegt, sich ständig wandelt, wächst, schrumpft, bereichert wird oder verarmt, zeigt, dass es nicht taugt als Garant für das "Echte" oder zuverlässig Authentische.

Die identitätspolitisch orientierten Feministinnen folgen noch einem anderen Impuls: Sie wünschen sich eine Gleichheit der Chancen als Gleichheit der Gelegenheit, die eigene Stimme zu erheben und gehört zu werden. Eine Migrantin wird Schauspielerin und nun soll sie auch in Filmen besetzt werden, die in entsprechenden Milieus spielen. So weit kann man - unter Vorbehalt - mitgehen. Wenn es dann aber plötzlich heißt, nur die Migrantin könne eine Migrantin glaubhaft verkörpern und nur sie dürfe die Rolle bekommen, wird es gefährlich und falsch. Doch diese Forderungen werden laut, und sie erstrecken sich, wie gesagt, auch auf Produktion und Inszenierung.

Ein Gerichtsdrama

Vor einigen Wochen wandte sich eine Reihe von Fraueninitiativen wie Pro Quote Film, Pro Quote Bühne und weitere mit einer "Stellungnahme" an das ZDF und die Öffentlichkeit. Der im Februar im ZDF ausgestrahlte Fernsehfilm "Sie sagt. Er sagt" - ein Werk von Ferdinand von Schirach (Buch) und Matti Geschonneck (Regie) - hatte ihr Missfallen, ja, ihren Ärger erregt.

Das Gerichtsdrama behandelt eine Klage wegen Vergewaltigung. Die Frau, die Anzeige erstattet hat, erzählt im ersten und längsten Teil des Films detailliert, was aus ihrer Sicht vorgefallen ist: Vier Jahre lang waren sie und der Beschuldigte ein heimliches Liebespaar. Bis ihnen all die Lügen, die sie ihren jeweiligen Ehepartnern auftischen mussten, zu viel wurden und sie beschlossen, sich zu trennen. Das taten sie. Ein paar Monate später begegnen sie sich zufällig wieder, gehen in seine Wohnung und miteinander ins Bett - wobei die Frau nun darlegt, dass ihr nach Beginn der Umarmung Bedenken kamen. Und sie ihr "Nein" angemeldet hat. Sie wollte sich nicht hinreißen lassen, weil sie die Folgen fürchtete. Es würde ja doch nicht weitergehen können, es warteten nur neue Leiden. Aber ihr Liebhaber ließ sie nicht los. Er vollzog den Geschlechtsverkehr trotz ihres Widerstands. Also war es eine Vergewaltigung. Sie brauchte drei Tage, um das Erlebte zu verdauen. Dann zeigte sie ihren Ex-Geliebten an.

Sehr gefasst, sehr kühl, sehr nüchtern, so als habe sie ihren Text auswendig gelernt, trägt sie ihn im Gericht vor. Der Beschuldigte sitzt die ganze Zeit still dabei, rührt sich nicht. Sachverständige werden gehört. Anwälte kommen zu Wort. Es sieht fast so aus, als sei der Fall klar. Da meldet sich der Mann.

Aussage steht gegen Aussage

So sei es nicht gewesen, sagt er. Der Sex war einvernehmlich. Er war derjenige, der die Trennung gewünscht habe, sie habe die Liaison fortsetzen wollen. Und um sich dafür zu rächen, dass er sie aufgegeben habe, sei sie auf die Idee gekommen, diese Falschbeschuldigung in die Welt zu setzen. Aussage steht also wieder mal gegen Aussage. Die Wahrheit scheint verborgen, und doch muss ein Richterspruch gefällt werden. Gegen Schluss des Films gibt es dann aber noch einen Twist. Ein Zettel wird hereingereicht.

In ihrer "Stellungnahme" greifen die Fraueninitiativen den Autor des Films, Ferdinand von Schirach, sowie den Inhaber der Produktionsfirma, Oliver Berben, an, sie unterstellen beiden, dass das Thema "sexualisierte Gewalt" sie über die Maßen umtreibe. "Sie werden nicht müde, ihre Sicht der Dinge kundzutun, die sich allerdings vor allem in der Besorgnis um eine potenzielle Falschbeschuldigung und Vorverurteilung äußert." Es sei "schockierend, wie schlecht recherchiert und stümperhaft die beiden Männer wiederholt Filme zu einem Thema machen dürfen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben". Ferner hätten sie, die kritischen Frauen, genug davon, dass bei Filmen, in denen es um das Dilemma einer "Aussage-gegen-Aussage"-Situation gehe, immer das Thema Vergewaltigung "herhalten" müsse. "Wir können dieses Stereotyp nicht mehr sehen."

Offenbar haben die Autorinnen der "Stellungnahme" den Film nicht zu Ende geguckt. Auf dem Zettel, der am Schluss der Verhandlung der Richterin übergeben wird, steht, dass die Ehefrau des Beschuldigten eine Aussage machen wolle. Ihr gegenüber habe er zugegeben, dass er seine ehemalige Geliebte vergewaltigt habe. Die Ehefrau tritt nicht mehr auf, der Film ist zu Ende. Aber Aussage steht jetzt nicht mehr gegen Aussage. Es ist noch eine dritte Aussage hinzugekommen. Und die kann alles wieder drehen.

Die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung

Das Thema "Vergewaltigung" musste also gar nicht "herhalten", um das alte Dilemma einer "Aussage-gegen-Aussage"-Situation zu dramatisieren. Es wird hier vielmehr gesetzt, um das noch ältere und immer wieder neue Thema der Wahrheitsfindung mit all ihren unheimlichen Schwierigkeiten anzuschlagen.

Bleiben die anderen Vorwürfe der "Stellungnahme". Ferdinand von Schirach, Oliver Berben und wohl auch der Regisseur Matti Geschonneck hätten "nicht die geringste Ahnung" vom Thema Vergewaltigung und - so darf man ergänzen - von der Verhandlung dieses Verbrechens vor Gericht. Als Beleg führen die Autorinnen an: "Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Falschaussage nur bei 3 bis 8 Prozent, liegt." Das werde im Film zwar erwähnt, da aber beide Parteien, die Frau, die angezeigt hat und der Mann, der beschuldigt wurde, vor Gericht als "gleichwertig" aufträten, sei, so muss man die Autorinnen interpretieren, eine Voreingenommenheit zulasten der Frau dabei herausgekommen.

"Der Film wird der komplexen Gefühlslage einer Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt nicht gerecht", schreiben die Frauen. Der Film werde "von einer fast reinen Cis-Männerriege um Matti Geschonneck und Ferdinand von Schirach umgesetzt. Was hat das ZDF dazu bewogen, diese Cis-Männer mit diesem sensiblen Thema zu beauftragen?" Sie machen auch gleich einen konstruktiven Vorschlag: "Ein gemischtgeschlechtliches Team hätte zu einem besseren Ergebnis geführt."

Gefahr zu großer Nähe

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Man kann solche Behauptungen aufstellen, doch da den Autorinnen der "Stellungnahme" so viel an Belegen und "Studien" liegt, sollten sie den Gedanken zulassen, dass "Betroffenheit" in vielen Fällen gerade nicht zu tieferer Reflexion von Zusammenhängen führt, dass öfter sogar Distanz eine bessere Voraussetzung ist, um "komplexe Gefühlslagen" zu verstehen. Unter Psychotherapeuten gilt es als Kardinalfehler, den eigenen Partner oder die Partnerin therapieren zu wollen, und wer sich zum Beispiel als Angestellte einer Drogenabhängigen-Hilfsorganisation mit einem der Klienten auf ein Liebesverhältnis einlässt, wird gefeuert.

Man kann dieses Gebot der Distanz - und implizit die Gefahr zu großer Nähe - getrost auf die Künste übertragen. Die Schauspielerin mit Migrationshintergrund wäre womöglich in der Rolle einer biodeutschen Ministerin sehr überzeugend, und sie hätte wohl auch mehr Lust auf so einen Part.

Niemand muss "sein", was er spielt. Vielleicht sollte man sogar sagen: Niemand sollte sein, was sie spielt? Die Grenzen in diesem Bereich sind fließend, auch eine Frau, die sexualisierte Gewalt erfahren hat, kann einen großartigen Film über ein Gerichtsverfahren wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs drehen. Aber nur sie? Feste Regeln oder Voraussagen entlang der Frage, ob persönliche Betroffenheit die künstlerische Umsetzung eines Themas fördert, sind nicht möglich. Es gilt aber: Alle können alles spielen oder inszenieren.

Das ist kunstfeindlich, essenzialistisch und iditotisch.

Selbstverständlich können Cis-Männer hervorragende Gerichtsdramen zum Thema Vergewaltigung drehen, im Sinne der "Stellungnahme"-Autorinnen und der Identitätspolitik sogar vor allem sie, weil sie ja im Vergleich zu Transmännern eher selbst in die Lage kommen könnten, eine Frau vergewaltigen zu wollen. Andererseits können auch Cis-Männer vergewaltigt werden, und keine der "Stellungnahme"-Verfasserinnen weiß, ob nicht Ferdinand von Schirach, Matti Geschonneck oder Oliver Berben schon mal Opfer traumatisierender sexueller Gewalt geworden sind.

Letztlich aber sind alle diese identitätspolitischen Weiterungen absurd. Denn dass alle alles spielen können, heißt nun mal, dass auch der chauvinistischste Cis-Mann einen mitreißenden Film über Vergewaltigung produzieren kann. Und dass die Vorwürfe der genannten Fraueninitiativen gegen das ZDF idiotisch sind.

Was wollen sie eigentlich? Dass Transmänner mehr Aufträge vom Fernsehen bekommen? Dass nur Frauen über Erfahrungen Filme drehen, die vorwiegend Frauen machen? Das ist, wie dargelegt, kunstfeindlich, essenzialistisch und idiotisch.

Spiegelfechterei

Die Verfasserin dieser Zeilen hatte über vier Jahrzehnte hinweg den Vorzug und das Glück, beim Grimme-Institut in Kommissionen und Jurys mitzuarbeiten, und sie weiß aus sehr guten Quellen, wie stark sich in dieser Zeit die Teilhabe von Frauen in der Filmwirtschaft insgesamt verstärkt hat. Es gibt immer mehr Regisseurinnen, immer mehr Drehbuchautorinnen und Produzentinnen. Diese Frauen werden beachtet, erhalten Preise und neue Aufträge. Dass es dazu kam, ist das Verdienst kämpferischer Frauen, wie sie wohl auch in den Initiativen arbeiten, die jetzt diese "Stellungnahme" unterzeichnet haben.

Natürlich bleibt einiges zu wünschen übrig. Noch entscheiden old boys in ihren networks zu oft über Chancen, die auch Frauen zustünden. Aber solche politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe um eine Verbesserung der Möglichkeiten für Frauen in der Filmwirtschaft dürfen sich doch nicht, um Legitimität zu heischen, über die ästhetischen und handwerklichen Grundsätze der Medien Film, Fernsehen und Theater "hermachen".

Der Grundsatz, dass alle alles spielen oder inszenieren können, darf nicht deshalb infrage gestellt werden, weil Frauen immer noch nicht pari in allen Sparten der genannten künstlerischen Sphären vertreten sind. Das ist Spiegelfechterei, bei der am Ende alle verlieren.

Lust auf das Fremde

Klar brauchen Frauen faire Chancen, überall, auch beim ZDF. Dafür soll man gerne auch Quoten einführen. Aber wenn die Frauen dann erst mal drin sind in der Konkurrenz, dann gelten für sie die gleichen Regeln und Standards wie für Männer. Womöglich können sie diese Regeln durch ihre Teilhabe sogar verändern, aber Boni oder Sonderrechte, zum Beispiel die Alleinzuständigkeit für gewisse Themen und damit den Ausschluss von Männern aus diesen Themen, darf es nicht geben.

Eine junge Drehbuchautorin von heute hat womöglich ein starkes Bedürfnis, das Skript für einen Film über einen Rugbystar zu schreiben oder über den Kommandanten einer Miliz in einem Bürgerkriegsland oder vielleicht über den Papst. Soll man sie davon abhalten? Es ihr untersagen? Warum reizt die Nachwuchsdrehbuchautorin ein Stoff, der unter Männern spielt? Wahrscheinlich, weil sich da eine fremde Welt auftäte, die sie zu erkunden hätte durch Nachforschung, Einfühlung und Imagination, und hinterher wäre ihr Sein durch das Spiel, das sie erfunden hätte, verwandelt, erweitert, erneuert.

Kreativität hat viel zu tun mit Lust auf das Fremde, das Andere, das Unbegreifliche, welches der kreative Geist sich in die Nähe zieht, indem er es darstellt, ausleuchtet, analysiert, lyrifiziert. So geht Kunst. Die identitätspolitische Dreinrede, die auf Authentizität besteht, indem sie Darstellung oder künstlerische Verarbeitung als eine Art Reflex oder Verdoppelung eines unhintergehbaren Soseins versteht, ist nicht nur idiotisch im Sinne von "auf das Eigene zurückgeworfen", wie die wörtliche Übersetzung des griechischen "idiós" heißt, sie ist auch zerstörerisch, was Freiheit und Überzeugungskraft der Kunst betrifft und deshalb rundheraus abzulehnen.

Kleinlich und besserwisserisch

Das Sein mag das Bewusstsein bestimmen, aber es entscheidet nicht darüber, wer was spielen oder inszenieren darf. Wenn man dann noch bedenkt, dass das Sein erst durch das Spiel wird, was es sein kann, wird die Beschränkung, die identitätspolitische Ver- und Gebotsschilder im Felde der Kunst errichten will, vollends zum Ärgernis.

Der Fernsehfilm "Sie sagt. Er sagt." wurde auch von einem juristisch hochgebildeten Rezensenten auf der Seite LTO im Internet gescholten, weil das Prozedere vor Gericht fehlerhaft wiedergegeben sei. Daran kann man Anstoß nehmen, wenn man, wie der Rezensent, Richter ist und sein eigenes Berufsfeld verkannt sieht, aber es ist letztlich kleinlich und besserwisserisch und zielt als Einwand ähnlich daneben wie die "Stellungnahme", die den Machern des Films vorwirft, er sei "oberflächlich recherchiert". Als handele es sich um eine Dokumentation.

"Sie sagt. Er sagt." ist Erfindung, Fiktion, ein ausgedachter Plot, es geht um die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und die Einsicht in die Grenzen, die der "Wahrheitsfindung" immer gesetzt sein werden. Insofern behandelt der Film ein sehr altes, sehr ernstes, immer wieder neu zu betrachtendes Problem, er ist, was die große Frage betrifft, die er aufwirft, ein Klassiker und handwerklich wie schauspielerisch hervorragend umgesetzt.

Erfahrungsräume für alle

Dass die Gepflogenheiten vor Gericht nicht immer getreulich durchdekliniert werden, ist geschenkt und letztlich unwesentlich. Dass den Machern ihr Geschlecht zum Vorwurf gemacht wird ("Cis-Männer") und zugleich behauptet wird, Frauen hätten so einen Stoff besser bewältigt, könnte man als lächerlich abtun, wenn diese identitätspolitischen Denkansätze nicht so viel Verbreitung fänden und wenn sie nicht so viel Schaden anrichteten.

Letztlich schießen die Frauen, die solche "Stellungnahmen" abgeben, immer wieder ins eigene Tor. Frauenemanzipation hat viel damit zu tun, Erfahrungsräume für alle, auch für Männer, zu öffnen, in denen es auf das Geschlecht gerade nicht mehr ankommt. Das war eine der Losungen, mit denen meine Generation vor ziemlich genau 50 Jahren ihren Kampf um Gleichberechtigung begann. Die jungen Frauen heute sollten, bevor sie ihre nächste "Stellungnahme" abgeben, darüber noch mal nachdenken.

Barbara Sichtermann Copyright: Foto: Privat Darstellung: Autorenbox Text: Barbara Sichtermann ist Publizistin und regelmäßige Autorin von epd medien.



Zuerst veröffentlicht 19.05.2024 10:00

Barbara Sichtermann

Schlagworte: Medien, Fernsehen, Frauen, Diskriminierung, ProQuote Regie, Sichtermann

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