"Miteinander gegeneinander sein" - epd medien

20.09.2024 07:00

Die Digitalisierung des Radios hat in Nordrhein-Westfalen später eingesetzt als in anderen Bundesländern. 2020 wurden landesweite Kapazitäten für das Digitalradio DABplus ausgeschrieben, inzwischen senden landesweit 16 digitale Angebote. Im April hat die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM NRW) regionalisierte Übertragungskapazitäten für DABplus in NRW ausgeschrieben. Die Medienkommission der LfM NRW will im Oktober entscheiden, wer die Plätze bekommt. Zusätzlich hat die Landesanstalt für Medien 2021 einen Strukturprozess zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Lokalfunksystems eingeleitet. Diemut Roether sprach mit dem Direktor der Medienanstalt, Tobias Schmid, über die Digitalisierung des Radios und die besondere Struktur der Radiolandschaft in NRW.

Ein epd-Interview mit dem Medienaufseher Tobias Schmid

Tobias Schmid ist seit 2017 Direktor der Landesanstalt für Medien NRW

Für die Plätze in den fünf ausgeschriebenen Regionen haben sich bis Ende Juni mehr als 50 Anbieter beworben, das überschreitet die Kapazitäten deutlich. Welche Rolle spielt in diesem Ausschreibungsprozess die Landesanstalt für Medien?

Tobias Schmid: Wir sind für die Durchführung des Verfahrens zuständig. Das beginnt bei der Frage: Gibt es einen Bedarf für DABplus? In Nordrhein-Westfalen sind wir etwas später in diese Technologie gestartet als andere Bundesländer. Der Start mit den landesweiten Sendern im Jahr 2021 war aber ziemlich erfolgreich. Derzeit sind 16 DAB-Sender on air. Für die Zuhörerinnen und Zuhörer in Nordrhein-Westfalen war das eine enorme Veränderung. Bisher hatten wir mit dem Lokalfunk nur ein privates landesweites Angebot und natürlich den WDR. Dadurch ergibt sich heute eine wesentlich größere Vielfalt. Nun stellte sich die Frage nach dem Bedarf für eine Versorgung in regionalen Zuschnitten. Das hat seine Ursache in der Lokalsenderstruktur, die wir in Nordrhein-Westfalen haben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bundesländern haben wir keine flächendeckenden Privatsender, sondern in jeder Stadt, jeder Gemeinde einen lokalen Sender, insgesamt sind das 44, die senden aber eben nur vor Ort.

Die große Frage vor der Einführung des Digitalradios war, ob sich die bundesweit einzigartige Lokalradio-Landschaft in Nordrhein-Westfalen ins Digitale übertragen lässt.

Vollkommen richtig. Das führt dazu, dass wir für eine Technologie wie DABplus in engeren Zuschnitten ausschreiben müssen, weil es für einen Radiosender in Herne kaum ein Mehrwert ist, wenn er in Bonn gehört wird. Da ergibt sich ein sehr großer Bedarf an Kapazitäten, wenn sich 44 Stationen bewerben - und das tun sie auch. Unsere Aufgabe ist zu sehen, wie wir in den fünf Regionen, die im Moment ausgeschrieben sind, ein möglichst vielfältiges Angebot für die Bevölkerung hinkriegen.

Ziel ist, dass die Hörerinnen und Hörer ein möglichst vielfältiges Angebot bekommen.

Führen Sie derzeit Gespräche mit den Sendern, ob sie sich Plätze teilen?

So sieht es das Gesetz vor, wenn die Nachfrage größer ist als die Kapazitäten. Es gibt die sogenannten Verständigungstermine. Wir haben damit vor drei Jahren schon gute Erfahrungen gemacht. Wir hatten eine UKW-Kapazität ausgeschrieben, auf die sich elf Sender beworben haben, und wir konnten im Verständigungsgespräch dazu beitragen, dass alle elf zusammen einen Sender gegründet haben. Das hat kaum einer für möglich gehalten und siehe da, es funktioniert. Ich bin zuversichtlich, dass wir das wieder hinbekommen. Ziel ist, dass die Hörerinnen und Hörer ein möglichst vielfältiges Angebot bekommen. Dabei müssen und wollen wir die Besonderheit berücksichtigen, dass wir den lokalen Anbietern die Chance geben, in die neue Technologie DABplus reinzukommen. Das wird nicht einfach, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man fast immer eine Lösung findet, wenn man sich konzentriert zuhört.

Der gemeinsame Sender NRW1 ging im Oktober 2022 auf Sendung, aber er hat wirtschaftliche Schwierigkeiten. Alle Radiosender haben derzeit Schwierigkeiten, sich durch Werbegelder zu finanzieren. Wie lässt sich die große Anbietervielfalt in NRW mit dem Ziel vereinbaren, dass die Sender sich auch wirtschaftlich tragen?

Bei NRW1 bin ich ganz zuversichtlich. Generell finde ich, dass der Weg, den die Branche in Nordrhein-Westfalen geht, zu wenig beleuchtet wird, denn er ist gegenläufig zu dem, was normalerweise passiert. Wenn ein Sektor unter Druck gerät, machen die Unternehmen normalerweise dicht: Jeder versucht, selbst durchzukommen, und gleichzeitig versucht man, den Markt abzuschotten. Die Erfahrung der letzten Jahre in der Medienbranche zeigt, dass das nicht zwingend zum Erfolg führt. Meistens geht es schief. In Nordrhein-Westfalen erfolgt im Radiosektor, den viele schon vor Jahren tot geglaubt haben, genau das Gegenteil: Wir haben den Markt geöffnet. Wir haben gesagt, die beste Antwort auf die Attraktivität der Audio-Angebote im Netz wäre eine attraktive Angebotsvielfalt im Radiosektor. Wenn der Nutzer nur einen Radiosender zur Verfügung hat, ist die Versuchung groß zu sagen, ich gehe ins Streaming oder zu Spotify. Durch die Nutzung der UKW-Kapazität und die Öffnung für DABplus bieten wir dem Nutzer mehr. Ich habe den Eindruck, dass sich dadurch die Abwanderung von der klassischen Radionutzung in die Streaming-Nutzung verlangsamt. Zudem hat sich die Branche hingesetzt und gesagt: Wir werden miteinander reden müssen, wie wir das Problem lösen. Daraus ist der Strukturprozess in Nordrhein-Westfalen entstanden.

Das Lokalfunksystem versucht, sich selbst zu stabilisieren, und wartet nicht darauf, von außen gerettet zu werden.

Der Reformprozess für das Lokalfunksystem in NRW läuft seit 2021. Was ist das für ein Strukturprozess?

In dem Prozess versucht sich das Lokalfunksystem, selbst zu stabilisieren, und wartet nicht darauf, von außen gerettet oder übernommen zu werden. Zugleich ist aber auch der Markteintritt von Externen wertvoll, der Markt wird dadurch attraktiver. Auch das erfordert unternehmerischen Mut. Die Unternehmen, die gemeinsam NRW1 gegründet haben, wussten, das sind nicht die einfachsten Bedingungen, aber die Situation stabilisiert sich, auch weil alle gemeinsam, einschließlich der Vertreter des Lokalfunks-Systems, für die kompetitive Situation Lösungen finden.

Wie sieht das genau aus? Gibt es Lokalfenster bei NRW1?

Die Idee ist: geeint in Vielfalt. Die Lokalsender sind mittelbar über Radio NRW Mitgesellschafter bei NRW1. NRW1 ist vom Profil her der jüngere Sender, der Lokalfunk hat eher die klassische Hörerschaft. Ich glaube, der Lokalfunk erkennt dabei an, dass NRW1 sich im schwierigeren Hörerumfeld bewegt. Dazu gehört, dass man als Gesellschafter eine gewisse Innovationszuversicht beibehält.

Wir haben in Nordrhein-Westfalen den besten Radiomarkt in Mitteleuropa.

Geplant war, dass NRW1, wenn sich der Sender wirtschaftlich gut entwickelt, von seinen Gewinnen etwas abgibt an die Lokalsender. Aber das ist derzeit noch nicht der Fall?

Das wundert niemanden, die Gewinnzone ist noch nicht erreicht. Die Grundstruktur ist in der Tat so, dass der Sender, wenn er wirtschaftlichen Erfolg hat, eine Unterstützungsleistung an das Lokalfunksystem zahlt. Zusätzlich partizipiert der Lokalfunk mittelbar an dem wirtschaftlichen Erfolg, weil er über Radio NRW Gesellschafter ist.

Sie sind optimistisch, dass dieser Erfolg eintreten wird?

Na ja, wie das so ist mit Prognosen in Transformationszeiten, aber wir haben in Nordrhein-Westfalen den besten Radiomarkt in Mitteleuropa. Wir haben 18 Millionen Einwohner, die bisher nur ein übersichtliches Radioangebot hatten, es müsste eigentlich genug Geld im Markt sein. Und ich denke, bei der Entwicklung der Hörerreichweite und mit dem Commitment der Gesellschafter wird sich die Geschichte ausgehen.

Wir haben ein starkes öffentliches Interesse an journalistischer Vielfalt.

NRW1 ist im Oktober 2022 gestartet. Sie haben gesagt, dass der Sender die Gewinnzone noch nicht erreicht hat. Es war auch zu lesen, dass der Sender nicht so viele regionale und lokale Inhalte bietet, wie er vorher angekündigt hatte. Wird die LfM da als Aufsichtsbehörde tätig werden?

Wir haben bisher keine regulierungsrelevante Reduzierung von regionalen Inhalten festgestellt. Was wir wahrnehmen: NRW1 hat im journalistischen Bereich Stellen reduziert. Das hat der Sender uns transparent dargestellt. Und wir haben zum Ausdruck gebracht, dass das nicht zur Tendenz werden darf. Zur Wahrheit gehört auch, dass in den letzten Jahren kein Radiosender vergleichbar in neue journalistische Infrastrukturen investiert hat. Die Vergabe von UKW-Kapazitäten an NRW1 macht vor allem eines klar: Ich kann als Aufsicht nicht mehr wie früher Dinge erzwingen. Ich kann aber die Mechanik nutzen, dass Unternehmen - beispielsweise Radiosender - der Öffentlichkeit etwas zurückgeben müssen, wenn sie ein öffentliches Gut, wie eine Frequenz, nutzen wollen. Man nennt das auch regulation by incentives. Wir haben als Aufsicht und Gesellschaft ein starkes öffentliches Interesse an journalistischer Vielfalt, es ist das beste Mittel gegen Desinformation. Der Markt wiederum hat ein Interesse an Reichweite. Wenn ich diese beiden Interessen synchronisiere, kann das funktionieren.

Was wird getan, damit die Sender sich gegenseitig stützen können?

Für die Lokalsender gibt es einen sogenannten Überlagerungsvertrag und einen Systemvertrag. Der Überlagerungsvertrag regelt Mechanismen im Verhältnis zwischen Betriebsgesellschaften und Veranstaltergemeinschaften. Jeder der 44 Radiosender gehört einer Betriebsgesellschaft (BG), und das Programm wird jeweils durch eine Veranstaltergemeinschaft (VG) verantwortet, die wiederum aus 21 Vertretern der Gesellschaft besteht.

Es ist ziemlich gut gelungen, den Interessenkonflikt innerhalb des Systems aufzulösen.

Der Überlagerungsvertrag heißt so, weil er die bestehenden Verträge zwischen BGs und VGs für einen begrenzten Zeitraum überlagern soll. Auch das ist eine Besonderheit der Radiolandschaft in Nordrhein-Westfalen, das sogenannte Zwei-Säulen-Modell ...

Dieses System hat in der analogen Welt gut funktioniert, die Struktur war aber nicht besonders krisenelastisch. Nun hat man eine Vereinbarung gefunden, wie sich die Mechanismen zwischen den Betriebsgesellschaften und den Veranstaltergemeinschaften auch in Krisenmomenten stabil gestalten lassen. Das betrifft vor allem die Budgetprozesse. Hierfür gab es keinen besonders gut funktionierenden Mechanismus, und das hat in Einzelfällen zu Konflikten geführt, die die Reaktionsgeschwindigkeit des gesamten Systems verlangsamt haben. Ich finde, es ist den beiden Systemteilen ziemlich gut gelungen, den Interessenkonflikt innerhalb des Systems aufzulösen.

Wie habe ich mir diesen Konflikt vorzustellen? Haben die Veranstaltergemeinschaften den Betriebsgesellschaften vorgeworfen, dass sie zu wenig investieren? Und die Betriebsgesellschaften wiederum haben den Veranstaltergemeinschaften vorgeworfen, dass sie zu viel Geld für Redaktionen ausgeben?

Wenn man es in die legendäre Nussschale werfen würde, wäre es das in etwa. Der Hauptvorwurf der Betriebsgesellschaften an die Veranstaltergemeinschaften war verallgemeinert: Die Veranstaltergemeinschaften nehmen keine Rücksicht in der Ausgestaltung ihres Programm- und Personalbedarfs auf die ökonomischen Notwendigkeiten. Und die Veranstaltergemeinschaften wiederum warfen den Betriebsgesellschaften vor, dass sie bei der Frage, wie viele Kosten anfallen, nicht transparent seien und deswegen nicht das Geld ankomme, das ihnen eigentlich zustünde. Wie immer stimmt, wenn man genauer hinguckt, weder das eine noch das andere so ganz. Aber es gibt viele Missverständnisse, und das liegt auch daran, dass die Strukturen extrem losgelöst voneinander bestanden und die Interessen eben nicht gleich sind.

Der Charme des Lokalfunksystems in Nordrhein-Westfalen ist, dass es flächendeckend ist.

Der "Überlagerungsvertrag" versucht nun, diese Interessen zu synchronisieren. Er sagt der Veranstaltergemeinschaft: Wenn du mehr in deinen Inhalt investieren willst, kannst du das tun, aber dafür musst du Ergebnisse abliefern. Oder der Betriebsgesellschaft, dass sie die unternehmerische Verantwortung stärker wahrnehmen muss und überdies die ökonomische Transparenz für die Veranstaltergemeinschaften erhöht. Vor allem geht es darum, dass man inhaltlich zusammenarbeitet und es dort zu wirtschaftlichen Konsolidierungen kommen kann, ohne die lokale Identität und Eigenständigkeit aufzugeben. Das nennt man vereinfacht Solidarprinzip. Das ist vor allen Dingen eine große Leistung der starken Sender.

Weil sie abgeben müssen?

Die starken Sender müssen verinnerlichen, dass sie zwar stärker sind, aber allein nicht überleben, denn der Charme des Lokalfunksystems in Nordrhein-Westfalen ist, dass es flächendeckend ist. Deswegen war der Weg für erfolgreiche Sender wie Radio Köln oder Bonn Rhein Sieg verständlicherweise viel weiter, die müssen länger darüber nachdenken, ob das für sie gut ist. Am Ende überwog die Überzeugung, dass es besser ist, es gemeinsam zu versuchen. Umgekehrt haben die kleinen Sender natürlich Angst, marginalisiert zu werden. Auch das kann ich verstehen.

Die Mediengruppe Funke hat in diesem Jahr mehrere Sender zusammengelegt in einem gemeinsamen Funkhaus in Essen. Dort arbeiten die Redaktionen der vier Lokalsender Radio Mülheim, Radio Oberhausen, Radio Emscher Lippe und Radio Kreis Wesel in gemeinsamen Studios und Redaktionsräumen. Auch da gab es viel Ärger. Hat sich der inzwischen gelegt?

Das sind Modelle, die von kleineren Sendern als bedrohlich empfunden werden können, aber die entscheidende Frage ist doch: Schaffen wir es als Radiosystem selbst, die Bedrohung zu managen oder liefern wir uns der Bedrohung aus und sie walzt über uns drüber. Ein System, dessen Charme in der doppelten Vielfalt liegt, ist nie frei von Konflikt. So ein Kontrollsystem mit einer Veranstaltergemeinschaft und einer Betriebsgesellschaft ist ja gerade dafür da, damit der eine dem anderen widersprechen kann. Und solange es keine Krise gab, war das nicht weiter herausfordernd. Jetzt, da der Wind deutlich zunimmt, werden auch Ansätze vorgeschlagen, die nicht alle gut finden. Dann muss man eine Lösung finden, und meiner Wahrnehmung nach ist das den Beteiligten bisher am Ende immer gelungen.

Wenn sie nicht reagieren, werden 30 bis 50 Prozent der Sender kaum eine Chance haben, weil sie nicht stabil genug sind.

Da geht es ja auch um die Identität eines Lokalsenders, mit dem sich wiederum die Hörerinnen und Hörer identifizieren.

Vor zwei Jahren zog Radio Ennepe Ruhr bei Radio Wuppertal ein, noch während der Strukturanalyse, das war extrem konfliktbelastet. Der kleinere Sender hatte Angst, dass seine journalistische Unabhängigkeit verloren geht. Nur, die Alternative wäre gewesen, ihn zu schließen. Die Frage war: Was kann man tun? Die Lösung war: Wir ziehen erst einmal in einer Wohngemeinschaft zusammen, bis sich jeder wieder eine eigene Wohnung leisten kann. Wir haben einen ganz guten Einblick in die Zahlen der Lokalradio-Unternehmen und ich weiß: Wenn sie nicht auf die Situation reagieren, werden 30 bis 50 Prozent der Sender kaum eine Chance haben, weil sie nicht stabil genug sind. Aber bei allem Konflikt ist doch das Bemerkenswerte, dass die Sender sich aus ihrer Lähmung befreien und sich die Frage stellen, was können wir tun, damit wir das gemeinschaftlich so gut wie möglich hinbekommen.

Die Sendegebiete der Lokalradios sind vor 40 Jahren festgelegt worden. Sie haben eine Studie in Auftrag gegeben, ob sie neu zugeschnitten werden sollen.

Die Studie ist noch in Arbeit. Das Landesmediengesetz hat der Landesmedienanstalt die Aufgabe gegeben zu überprüfen, ob die Sendegebiete wirtschaftlich tragfähig sind. Die Zahlen, die wir vorliegen haben, erwecken den Eindruck, wenn alles unverändert weitergelaufen wäre, wäre ein relevanter Teil nicht mehr wirtschaftlich tragfähig. Bestenfalls löst die Branche dieses Problem aber einfach selbst, indem die Sender mehr kooperieren. Und sie müssen dabei strategischer werden. Für die Gebiete, in denen etwas passiert, kann ich mir vorstellen, dass wir den Interventionsbedarf zurückstellen können. Dort, wo nichts passiert, wird es vermutlich schwieriger. Die gute Nachricht ist: Den sogenannten Systemvertrag haben inzwischen 41 von 44 Sendern unterschrieben.

Wir können die Verbreitungsgebiete nicht einfach sterben lassen.

Was ist der Systemvertrag?

Da geht es vor allem um das Verhältnis der Sender zueinander. Das ist ein starkes Zeichen von Solidarität. Den Überlagerungsvertrag haben inzwischen 36 von 44 unterschrieben, und ich glaube, dass wir bis Ende des Sommers noch weitere Sender davon überzeugen können, dass es für das Lokalfunksystem besser ist, wenn sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Alternative ist, dass wir als Behörde Verbreitungsgebiete neu zuschneiden müssen. Denn wir können die Verbreitungsgebiete nicht einfach sterben lassen, wir müssen für die Bevölkerung eine Vielfalt journalistischer Arbeit gewährleisten.

In einer Stellungnahme für den Ausschuss für Kultur und Medien im Landtag Nordrhein-Westfalen vom November 2023 schrieb die Landesmedienanstalt, der Systemvertrag solle die Zukunftsfähigkeit der Lokalsfunksystems grundsätzlich sichern. Was spricht aus Sicht der Radios, die noch nicht unterschrieben haben, dagegen, den Vertrag zu unterschreiben?

Beim Überlagerungsvertrag ist das eine Frage des gegenseitigen Vertrauens zwischen BG und VG, das ist in manchen Gegenden schwierig. Und in manchen Fällen scheint es vielleicht auch nicht notwendig, weil dort gerade alles läuft. Aber wie das halt so ist, Verträge schließt man für den Fall, dass es mal nicht von allein klappt. Bei dem Systemvertrag muss ich sagen: Dafür habe ich kein Verständnis. Der Systemvertrag ist das manifestierte Solidarprinzip. Das System trägt das Solidarprinzip wie eine Ikone seit 30 Jahren vor sich her und dann sagen drei auf einmal, sie wollen nicht. Beim Überlagerungsvertrag bin ich optimistisch, dass noch einige dazukommen, weil das oft ein Verständnisproblem ist. Da kann man viel durch Aufklärung erreichen.

Wenn wir ein funktionsfähiges System in Nordrhein-Westfalen wollen, müssen wir diesen Schritt miteinander gehen.

Der Systemvertrag kann nur wirken, wenn alle unterschreiben. Wie können Sie die fehlenden drei Sender überzeugen, doch noch zu unterschreiben?<

Wenn das so bleibt, ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, sich den Sachverhalt anzusehen. Im Strukturprozess ist von allen Veranstaltergemeinschaften und Betriebsgesellschaften ein Letter of intent unterschrieben worden, da hat man sich bereits auf die Parameter des Systemvertrags geeinigt. Jetzt wollen 41 von 44 Sendern das Problem gemeinsam lösen und nur drei sagen Nein. Wenn wir ein funktionsfähiges System in Nordrhein-Westfalen wollen, müssen wir diesen Schritt miteinander gehen.

Die Verlagslandschaft hat sich in den vergangenen 30 Jahren auch in Nordrhein-Westfalen sehr verändert. Viele Regional- und Lokalzeitungen wurden von größeren Verlagen übernommen. Stecken mittlerweile nicht hinter allen Betriebsgesellschaften dieselben großen Verlage in NRW?

Wir haben Konstruktionen, in denen nur ein Sender zu einem lokalen Verlag gehört, dann haben wir große Gruppen wie im Rheinland oder im Ruhrgebiet. Das macht den Prozess akademisch total faszinierend, aber in der Praxis extrem schwer, weil die Verlagspolitiken sehr unterschiedlich sind. DuMont in Köln geht mit der Situation ganz anders um als Verlage in Ostwestfalen. Und natürlich spielt in der jeweiligen Verlagsstrategie Audio eine unterschiedliche Rolle. Daraus leitet sich die Frage ab, wie autonom die Geschäftsführung eines Radiosenders ist: Gibt es ein Interesse, das synergetisch zu betreiben oder grenzt man es bewusst voneinander ab?

Wenn es den lokalen Radiostationen gelingt, am Hörer zu bleiben, sind sie nicht so leicht ersetzbar.

Wie wirkt sich die Medienkrise, die vor allem die Verlage trifft, auf die Audiostrategie aus?

Die Gelassenheit hat sich dadurch nicht erhöht. Andererseits war Audio bisher ein superlukrativer Sektor. Wir reden hier bei den Radiosendern zugleich über Einheiten, in denen sie den Digitalisierungsprozess verhältnismäßig schnell hinbekommen würden. Deswegen ist das Drehen des Prozesses hier vielleicht sogar einfacher als im Stammhaus der Zeitung. Und ich glaube auch, dass das Alleinstellungsmerkmal von journalistischem Lokalradio in der Bevölkerung noch leichter abzurufen ist. Wir sehen das in den Krisenmomenten: Zur Corona-Zeit oder während der Flut schalten die Leute als erstes das Radio ein, sie nutzen die Information morgens auf dem Weg zur Arbeit. Obgleich der journalistische Anteil nicht so groß ist, ist er immer noch der Hauptgrund, warum die Leute nicht nur Spotify hören. Das Element ersetzt sich offenbar schwerer als in anderen Mediengattungen. Wenn es den lokalen Radiostationen gelingt, am Hörer zu bleiben, sind sie nicht so leicht ersetzbar.

Viele Verlage machen inzwischen Podcasts. Die "Rheinische Post" zum Beispiel ist da sehr aktiv. Ich könnte mir vorstellen, dass die Verlage gerne Synergie-Effekte heben würden, aber wird das nicht wiederum durch das Zwei-Säulen-Modell erschwert?

Das wird dem Grunde nach erschwert, aber ich glaube, es wird durch die Überlagerungsverträge erleichtert. Bei dem Überlagerungsvertrag geht es vor allem um die Frage, wie hoch ist das Budget? Es gibt einen Grundsockel: Für acht Stunden am Tag sind es rund 700.000 Euro im Jahr. Die Frage war, was ist, wenn ich mehr brauche oder mehr machen möchte. Da haben wir gesagt: Das geht, aber du musst der Forderung einen business case gegenüberstellen. Wenn die Veranstaltergemeinschaft gern 800.000 Euro hätte, muss sie sagen, was sie damit macht: Erhöht sie die Reichweite, kann die BG es rekapitalisieren. Oder sie macht mit dem Geld etwas, wovon die fünf Schwestersender oder der Verlag profitieren, zum Beispiel, weil Podcasts zur Verfügung gestellt werden. Das zwingt die beiden Systemteile dazu, weiter zu denken als nur für eine lokale Station. Und es soll ein incentive dafür sein, dass derjenige, der sich das Coolere ausdenkt, das bessere Budget bekommt.

Das ist eine Branche, über die kaum jemand spricht und die im Alltag der Menschen sehr wichtig ist.

Die Media-Analyse kürzlich hat wieder gezeigt, dass 75 Prozent der Menschen täglich Radio hören. Haben Sie den Eindruck, dass das Medium Radio in der medienpolitischen Debatte zurzeit unterschätzt wird?

Ja, das ist eine Branche, über die kaum jemand spricht und die im Alltag der Menschen sehr wichtig ist. Und sie gibt alles, um sich zu konsolidieren. Bis gestern konnten die Sender noch ihr Sendeschema fahren, und wenn sie das gut gemacht haben, war alles fein. Jetzt müssen sie die ganze Komplexität der Digitalisierung und der Globalisierung abbilden in Einheiten, die klein sind. Das ist eine Super-Challenge. Ich glaube, dass das klappt, weil das Radio etwas bietet, was kein anderer bietet. Es gibt kein echtes Substitut. Natürlich hören meine Kinder Spotify, weil sie Musik hören wollen. Aber irgendwann hat man Beyoncé zum Tausendsten Mal durchgehört und Taylor Swift auch und dann sitze ich im Auto und denke: Jetzt möchte ich, dass mir jemand ein Angebot macht. Das ist Radio. Aber es gibt neben der Konkurrenz eine zweite große Herausforderung: In meinem Auto gibt es keinen Knopf mehr für das Radio. Da geht ein Entertainment-System an und wenn ich sage: Spiel mir Musik, spielt es Musik. Da sind wir beim Problem der Auffindbarkeit. Für das Radio ist das ein Alptraum.

Können Sie sagen: Spiel Antenne Düsseldorf?

Das geht. Aber das wird eine Kernaufgabe für uns in der Regulierung sein, und auch für den Gesetzgeber, zu überlegen: Wie gewährleisten wir die Auffindbarkeit der Angebote? Was kann der Gesetzgeber unternehmen, um die Auffindbarkeit zu stabilisieren? Das ist der wichtigste Beitrag, den wir für die Vielfalt leisten können. Den Beitrag, den die Branche leisten muss, habe ich eben beschrieben: Die müssen zueinanderfinden, gemeinsam Lösungen finden und gleichzeitig ihre Vielfalt erhalten. Sie müssen miteinander gegeneinander sein. Sie müssen sich öffnen für neue Strategien und sie müssen die Komplexität der Situation annehmen. Die Aufgabe der Ordnungspolitik wird sein, dafür zu sorgen, dass das, was dann entsteht, noch wahrnehmbar ist. Ich gebe zu, es gab schon langweiligere Zeiten.

Die Unruhe ist groß. In einzelnen Städten wurden in den vergangenen Monaten Resolutionen für die Erhaltung der Lokalsender verabschiedet.

Das verstehe ich. Auch wir wollen die lokale Struktur erhalten. Die Frage ist nur, was ist der Weg dorthin. Eine bessere Idee als die, die sich das System bisher mit dem Systemvertrag und dem Überlagerungsvertrag ausgedacht hat, kenne ich nicht. Außer der etwas kurzsichtigen Idee der staatlichen Rettung ...

Medienunternehmen, die nach staatlicher Förderung rufen, machen mich nervös.

Es wurde auch der Vorschlag gemacht, die Lokalradios durch den Rundfunkbeitrag zu unterstützen.

Das steht dem Gesetzgeber frei. Wenn er findet, dass er dem ohnehin unter Rechtfertigungsdruck stehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch die Last des Lokalfunks drauflegen möchte, kann er das vielleicht tun. An der Stelle derer, die danach rufen, würde ich mir zweimal überlegen, ob ich das wirklich will. Dann sind sie öffentlich-rechtlicher Rundfunk, das muss man nicht sein wollen. Noch schlimmer wäre jedoch staatliche Förderung. Medienunternehmen, die nach staatlicher Förderung rufen, machen mich nervös. Ich würde als Medienunternehmen ganz schnell weglaufen, wenn man mir staatliches Geld anböte. Wenn ich Redakteur wäre, Veranstaltergemeinschaft oder Verleger - da würde sich alles in mir sträuben. Ich kann mal eine Corona-Hilfe fordern oder eine Anschubfinanzierung für den Umstieg auf DABplus, aber eine institutionalisierte Förderung durch Staatsgeld bei Medien - da kann es nur rote Lampen geben. Und davon abgesehen, wir haben für den Konsolidierungsprozess noch zwischen drei und fünf Jahren Zeit. Wie lange würde eine Diskussion dauern, ob Lokalsender Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind? Das wird nicht passieren.

Was planen sie an Förderung für den Umstieg auf DABplus?

Wir werden DABplus-Engagement unterstützen. Der Gesetzgeber hat das Landesmediengesetz so angepasst, dass wir die Finanzmittel dafür haben. Wir fördern DABplus, allerdings zeitlich beschränkt für drei Jahre und wir bauen die Förderung über die Jahre ab. Im ersten Jahr fördern wir maximal 70 Prozent der Kosten, im zweiten Jahr sind es maximal 50 Prozent und im dritten Jahr maximal 30 Prozent. Gefördert werden nur Sender, die eine entsprechende digitalstrategische Ausrichtung nachweisen können, weil ich kein öffentliches Geld in einen Sender stecken kann, der morgen pleite ist. Die digitale Zukunftsfähigkeit ist die größte Herausforderung für die Lokalstationen, aber auch regional ausgerichtete Sender können von der Förderung profitieren. Wir werden bis zum Herbst über die Förderung entscheiden. Der Lokalfunk ist in einer wirtschaftlich schwierigen Lage, und ich muss ihm die Chance geben, diese Technologie für sich zu erproben, aber es kann nur eine Tritthilfe für den Einstieg sein.

dir



Zuerst veröffentlicht 20.09.2024 09:00 Letzte Änderung: 20.09.2024 11:05

Schlagworte: Medien, Hörfunk, Lokalradios, Nordrhein-Westfalen, Aufsicht, LfM, Interview Schmid, Roether, BER, NEU

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