15.11.2024 08:50
epd Er nennt sich "Vollstrecker", weil er angeblich den Willen der Mehrheit ausführt, aber in Wirklichkeit ist Ephraim Zamir Staatsanwalt, Richter und Henker in einer Person: Der deutsche Jude macht zwei Neonazis für den Tod seiner Adoptivtochter verantwortlich, deshalb sollen sie sterben. Ein Live-Stream überträgt den "Prozess" im Internet, ein Privatsender sorgt für noch mehr Reichweite: Zamir zählt die Anklagepunkte auf, die beiden können sich verteidigen, das Volk stimmt ab.
Die Sache hat jedoch einen Haken: Die Männer repräsentieren in der Tat ein Deutschland, wie es dunkler kaum sein könnte, aber Esther haben sie nicht auf dem Gewissen. Und so sehr sich Zamirs Zorn nachvollziehen lässt: Macht sich, wer Unrecht mit Unrecht vergilt, nicht ebenso schuldig?
Für solche moralisch-ethischen Überlegungen bleibt in Hannu Salonens Verfilmung von Peter Grandls Roman "Turmschatten" aber wenig Zeit, weil der Regisseur die Geschichte mit enormer Intensität umgesetzt hat. Ihre Spannung verdanken die sechs Folgen neben der fesselnden Handlung vor allem der preiswürdigen Bildgestaltung von Felix Cramer. Hinzu kommt die herausragende Besetzung und die Tatsache, dass die beiden zentralen Figuren nicht eindeutig gut oder böse sind.
Heiner Lauterbach verkörpert den früheren Mossad-Agenten Zamir als "Zorn Gottes". Seine Motive sind nachvollziehbar, aber der Mann ist ein kaltblütiger Killer. Klaus Steinbacher als Nazi Karl Rieger wiederum deutet mit seinem Spiel die Hoffnung an, er möge sich als potenzieller Aussteiger erweisen. Er ist trotz seiner faschistischen Parolen und des Hakenkreuzes auf dem Rücken kein dumpfer Schläger, in der Auseinandersetzung mit Zamir erweist er sich intellektuell als ebenbürtig. Das gilt auch für den Kopf der der Neonazis, Wilhelm Thielen (Michael Roll): Der Kommunalpolitiker sitzt für eine nationalistische Partei im Stadtrat, gibt sich in der Öffentlichkeit staatstragend und ist eine beunruhigend aktuelle Figur.
Das Drehbuch von Christian Limmer und Grandl selbst orientiert sich weitgehend an der Vorlage. Geändert hat sich neben dem Geschlecht einiger wichtiger Figuren auch das Alter des Protagonisten: Die Romanhandlung spielt 2010, die Serie hat sie ins Jahr 2005 vorverlegt, andernfalls wäre es wenig glaubwürdig, dass Zamir, der als Kind den Holocaust überlebt hat, fit genug ist, um die beiden nicht mal halb so alten Eindringlinge zu überwältigen.
Geschickt platzierte Rückblenden erklären die Motive der Beteiligten und offenbaren Zamirs Vergangenheit als Mossad-Rächer. "Zorn Gottes" hieß die Vergeltung für die palästinensischen Morde während der Olympischen Spiele 1972 in München. Auch der Anführer des Sondereinsatzkommandos Achim Schuster (Murathan Muslu) und Einsatzleiterin Koch (Anja Herden) bringen eine gemeinsame Vorgeschichte mit, die ihn antreibt und sie zögern lässt.
Derweil macht sich eine Bewährungshelferin (Milena Tscharntke) Vorwürfe, weil sie Rieger nicht geglaubt hat, als er sie vorab über den Überfall informiert hat. Eine junge TV-Journalistin (Sina Reiß) sieht die Chance ihres Lebens und hält das Land mit ihrem Live-Bericht in Atem. Im Studio wird eine erfahrene Kollegin (Désirée Nosbusch) vom Senderchef zurückgepfiffen, als sie dem Stadtrat beim Interview allzu unbequeme Fragen stellt.
Eine weitere wichtige Rolle spielt der Handlungsort: Zamir lebt in einem äußerlich mittelalterlich anmutenden Turm, der in Wirklichkeit ein Hochbunker ist. Das eigens für die Dreharbeiten errichtete Bauwerk ist die reinste Festung. Während der Verhöre der beiden Neonazis überwiegt eine düstere Verliesatmosphäre.
Trotzdem bewegt sich "Turmschatten" auf dünnem Eis. Die Antisemitismen von Riegers Kumpan (Paul Wollin) sind plumpe und leicht durchschaubare Volksverhetzung. Die hartnäckige Holocaust-Leugnung Riegers, der einst vom Großvater indoktriniert worden ist, folgt zwar der rechtsextremistischen Legende, aber trotzdem wird er mehr und mehr zum Sympathieträger. Der charismatische Nationalist Thielen schließlich entspricht exakt heutigen rechtsextremistischen Abgeordneten, die das verhasste System von innen zerstören wollen, sich öffentlich aber gern als Opfer inszenieren. Auf diese Weise ergibt sich eine interessante Parallele zu Zamir, der ebenfalls gleichzeitig Täter und Opfer ist.
Jenseits der politischen Ebene ist "Turmschatten" vorzüglich gemachtes Spannungsfernsehen. Und natürlich spitzt sich die Lage gegen Ende zu, als die Polizei das Leben der Geiseln mit einer gewagten Aktion retten will.
infobox: "Turmschatten", sechsteilige Thriller-Serie, Regie: Hannu Salonen, Buch: Peter Grandl, Christian Limmer, Kamera: Felix Cramer, Produktion: The Amazing Film Company, Paramount Television International Studios (Sky Atlantic ab 15.11.24, freitags, 20.15-22.15 Uhr, Wow, ab 15.11.24)
Zuerst veröffentlicht 15.11.2024 09:50 Letzte Änderung: 18.11.2024 09:13
Schlagworte: Medien, Fernsehen, Streaming, Kritik, Kritik.(Fernsehen), KSky, Serie, Salonen, Grandl, Limmer, Gangloff, NEU
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